Nein, das im Titel ist kein Tippfehler, sondern mein Plädoyer, den Begriff der Komfortzone zu entsorgen, da eher weder besonders hilfreich, noch (bei genauerem Hinsehen) besonders appetitlich ist.
Schauen wir mal auf ein paar Zitate zum Thema Komfortzone: „If everything is too good, you’re probably stuck not being awesome.“ Auf Deutsch: wenn du dich wohlfühlst, bist du nicht gut genug. Wer zufrieden ist, kann nix können?
Oder: „If you are serious about improving, get used to being uncomfortable.“ Oder auch „wenn du in deiner Komfortzone hängen bleibst, wächst du nicht mehr.“
Mir scheint das nicht nur eine etwas eigenartige Sicht auf Wohlfühlen, Veränderung und Verbesserung zu sein. Auch als Motivationsstrategie finde ich es fragwürdig. Anstatt Begeisterung für das Neue zu wecken, machen wir Menschen Angst, geben ihnen das Gefühl, inadäquat zu sein? Wären das nur Auszüge aus einem einzelnen Beitrag, könnte man hier abwinken – es schreibt eh jeder, was er will. Aber das Netz ist voll von diesen Artikeln. „Die Komfortzone verlassen“ begegnet mir als Phrase mittlerweile täglich irgendwo.
Komfortzone – Modell 1
Vielleicht schauen wir uns die gängigsten Denkmodelle mal an. Das, welches mir am im Moment am häufigsten begegnet, hat vier ineinander geschachtelte „Zonen“, die man angeblich nacheinander durchlaufen soll (wer eine Visualisierung möchte, klicke auf den Link – ich will das hier nicht auch noch weiter verbreiten). Ganz innen findet sich die „Komfortzone“, in der man sich wohlfühlt, in der sich nichts ändert. Wer diese verlässt, findet sich in der „Angstzone“ wieder, in der wir das Neue angeblich als Bedrohung wahrnehmen, ausweichen und Ausflüchte suchen. Wer diesen Zwischenzustand überwindet, sich also noch weiter von seiner Komfortzone entfernt, erreicht irgendwann die „Lernzone“, in der dann endlich neue Fähigkeiten und neues Wissen erworben werden können. Ganz außen soll dann die „Wachstumszone“ liegen, die quasi die neue, höhere Warte darstellt, von der man sich dann neue, größere Ziele stecken kann.
Böse Zungen könnten hier behaupten, das Modell ist vor allem ein Geschenk für jene, die einem halbgare Lösungen andrehen wollen – schließlich kann man damit Widerstände und Probleme als normal wegdiskutieren. Sie sind schließlich nur völlig zu erwartende Angstreaktionen und haben garantiert nichts mit berechtigten Bedenken zu tun. Je mehr Angst und Unsicherheit, desto mehr Gehör findet, wer sich weiterhin souverän und selbstsicher gibt – Angst ist also für den gewieften Berater ein möglicher Mechanismus zur dauerhaften Kundenbindung. Und dass Angst verbreitet werden soll, merkt man oft schon an den Einleitungen einschlägiger Artikel, in der die Komfortzone zur Stagnationszone erklärt wird. Und wer stehenbleibt gerät in einer sich rapide verändernden Welt schnell ins Hintertreffen. Man soll sich also bitteschön davor fürchten, den Anschluss zu verlieren.
Zwei Gedanken habe ich dazu. Erstens: Die zeitliche und emotionale Abfolge „Wohlfühlen => Angst => Lernen => Wachstum“ ist einfach Quatsch. Das weiß jeder, der schon mal irgendwann irgendetwas lernen wollte. Lernen und Weiterentwicklung machen Spaß, sie passieren ständig und können sich unter den richtigen Umständen nahezu mühelos anfühlen – sie sind nicht etwas fernes, seltenes, zu deren Erreichung man sich erst mal durch das Tal der Tränen zwingen muss. Entweder ist also das dahinterliegende Modell falsch, oder die Darstellung mit den verschachtelten Kreisen ist grob irreführend. Zum anderen ist es auffällig schwierig, für dieses Modell eine Originalquelle zu finden (wer eine kennt, gerne her damit!). Ohne bessere Informationen muss ich davon ausgehen, dass hier jemand ohne relevante Ausbildung einfach subjektive Erfahrung als “psychologische” Tatsachen dargestellt hat und seitdem diese unfundierte und unplausible Idee durch Internet und Vortragsfolien geistert – aber ich freue mich auch, wenn jemand diese Hypothese widerlegen kann und möchte.
Komfortzone – Modell 2
Schauen wir uns mal die alternative Darstellung an – das Drei-Zonen-Modell, das ich auch nicht weiter verbreiten möchte. Hier findet sich außerhalb der Komfortzone eine „Stretch-Zone“ erhöhter Anspannung, die bei weiterer Reizsteigerung irgendwann in die überfordernde „Panikzone“ übergeht. Die Theorie des Modells sagt, dass sich irgendwann das Normalitäts-Gefühl soweit verschiebt, dass man diese neuen Situationen auch komfortabel meistern kann, was logischerweise bedeutet, dass man sich größeren Herausforderungen stellen kann und sollte. Dazu muss man sich lediglich wiederholt „Stretch“-Situationen aussetzen. Dieses Modell scheint zumindest die beiden Punkte von oben zu adressieren – es passt grundsätzlich zu alltäglichen Erfahrungen, und es basiert auf Forschung von Psychologen.
Oder… zumindest sowas in der Art. Bei genauerer Betrachtung haben die Urväter der Komfort- und Stretchzonen, Yerkes und Dodson, damals im Jahr 1908 im “Journal of Comparative Neurology and Psychology” nur beschrieben, dass Labormäuse schneller ein von ihnen erwartetes Verhalten lernen, wenn man sie mit zunehmend schmerzhaften Elektroschocks zur Vermeidung von Fehlern animiert. Dieser Effekt ist nicht beliebig steigerbar, zu starke Stromschläge führen irgendwann zu einem starken Rückgang der Lern- und Leistungsfähigkeit (wie eigenartig).
Also: schwache Bestrafung => niedrige Lernleistung, mittlere Bestrafung => hohe Lernleistung, harte Bestrafung => (wieder) niedrige Lernleistung. Über eine Reihe von gedanklichen Sprüngen kann man daraus die drei Zonen des Modells ableiten. Wie aussagekräftig dieses Experiment für unsere Arbeitswelt ist, und ob man sein Modell menschlichen Verhaltens wirklich darauf aufsetzen möchte, darüber darf sich jeder selbst eine Meinung bilden.
Ob und wie sehr steigende Anforderungen (im Gegensatz zu Elektroschocks) tatsächlich Lernen fördern, scheint mindestens mal umstritten zu sein. Oft wird eine Analogie zum Krafttraining verwendet. Muskeln wachsen nur, wenn man sie über gewisse Grenzen hinaus beansprucht. Auch ohne Biologe zu sein weiß ich, dass das Gehirn kein Muskel ist und auch grundsätzlich anders funktioniert. Nico Rose nennt das Komfortzonen-Modell in der Wirtschaftswoche „Motivations-Bullshit“ und schreibt dazu: „Überforderung, sich also permanent außerhalb der eigenen Komfortzone zu bewegen, führt zu Erstarrung oder Panik. In einem solchen geistig-seelischen Zustand lernen wir gar nichts.“ Das ist sicher auch überspitzt. Wir lernen dabei schon, aber wahrscheinlich nicht das, was wir lernen wollten.
Aber es fühlt sich richtig an!
Ja, aus eigener Erfahrung weiß ich, es gibt so etwas wie den inneren Schweinehund, der manchmal überwunden werden will. Als Menschen sind wir manchmal faul, und manchmal stellen wir uns mögliche Herausforderungen schlimmer vor als sie letztendlich sind. Das ist okay. Und um uns zu entwickeln brauchen wir Herausforderungen, Veränderung, neue Impulse, weil Lernen immer ein Prozess der Anpassung an eine Umwelt ist. Aber das hat alles nichts mit Angst zu tun, oder ihr heroisch zu trotzen. Die Vorstellung, dass das Erreichen von Zielen heldenhaft ablaufen müsste, hat mehr mit Hollywood als mit der Realität zu tun.
Es ist genau gegenteilig. Um wirklich Dinge auszuprobieren und Erfahrung zu sammeln, muss das Umfeld sicher sein. Größere Veränderung kann ein Gefühl von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit hervorrufen. (Daniel Mezick nennt das, in Anlehnung an Victor Turner, “Liminalität”.) Das ist normal und vollkommen in Ordnung, und man ist dem nicht einfach hilflos ausgeliefert. Es gibt Wege, damit umzugehen. Mehr Angst zu haben, ist jedenfalls kein Zeichen dafür, dass man irgendetwas richtig macht. Und wann und wie man sich herausfordert, ohne sich zu überfordern, weiß oft jeder selbst am besten.
Im besten Fall liefert die Vorstellung einer „Komfortzone“ also Menschen, die unsicher sind, ob sie ein überschaubares Risiko eingehen sollen, den finalen Impuls zum Handeln; zugegebenermaßen mit oft positivem Ergebnis. Im weniger schönen Fall ist es ein ethisch fragwürdiges, übergriffiges Manipulationswerkzeug, mit dem sich hervorragend Angst verbreiten und Geld verdienen lässt, während die Arbeitsqualität leidet und Menschen sich selbst unnötigem Stress aussetzen.
Am meisten stört mich die Implikation, dass sich wohlzufühlen ein schlechter, zu vermeidender Zustand wäre – das klingt für mich wie ein Rezept zum Unglücklichsein.
Ein Plädoyer für das Sich-Wohlfühlen
Sich kompetent und sicher zu fühlen, ist etwas Gutes. Es zeigt, dass das, was ihr gelernt und geleistet habt, für eure alltäglichen Herausforderungen ausreichend ist. Es ist eine Form der Selbst-Wertschätzung. Lest das gerne noch ein zweites Mal: Sich kompetent und sicher zu fühlen, ist etwas Gutes! Es zeigt, dass das, was ihr gelernt und geleistet habt, für eure alltäglichen Herausforderungen ausreichend ist. Das ist nicht selbstverständlich, und ihr könnt euch dafür ruhig mal auf die Schulter klopfen.
Lasst euch nicht einreden, man würde nichts lernen, solange man sich wohlfühlt. Ihr lernt den ganzen Tag. Ihr lernt in diesem Moment, beim Lesen dieses Artikels. Laufend nehmt ihr Informationen auf, sortiert, bewertet, stellt euer Gehirn neue Verknüpfungen her, löst bestehende wieder auf. Just in diesem Moment findet gerade irgendwo eine hundertjährige Großmutter heraus, wie man Instagram bedient, um dem Leben ihrer Enkel besser folgen zu können. Irgendein Kleinkind lernt gerade, wie man greift, oder läuft, oder spricht, und ist dabei sicher nicht von Angst, sondern von Neugier getrieben, vom Wunsch nach Interaktion mit einer riesigen Welt voller neuer Möglichkeiten. Man kann als Mensch gar nicht nicht lernen, irgendwas lernen wir immer.
Permanent an der Grenze des eigenen Könnens zu operieren ist belastend, riskant und im Berufsleben schlicht unprofessionell. Eure Kunden wollen nicht, dass ihr unsicher arbeitet – sie bezahlen euch schließlich für das, was ihr könnt. Sie wollen sicher nicht ungefragt in euer Lernexperiment hineingezogen werden oder es auch noch finanzieren müssen (dazu hier mehr). Leistungssituationen sind keine Versuchslabore. Eine Fußballmannschaft übt neue Spielzüge nicht vor 80.000 Zuschauern im Pokalfinale, sondern in separaten, sicheren Trainingseinheiten, in denen es nicht schlimm ist, wenn etwas nicht klappt. Im Finalspiel selbst ist nicht der richtige Zeitpunkt für Experimente, dort wird so gespielt, wie man weiß, dass man es kann.
Niemand – niemand! – außer euch bestimmt, was ihr in eurem Leben erreichen müsst. Wenn ihr mit dem, was ihr könnt, zufrieden seid, ist das prima. Wenn ihr gerade andere Baustellen habt und deswegen im Job eher Ruhe und Routine braucht, prima. Wenn ihr einen Weg gefunden habt, nebenbei entspannt und sicher ein paar neue Dinge zu lernen – prima. Wenn ihr neugierig seid und euch in ein neues Thema einarbeitet, um es besser zu verstehen – klasse.
Und wenn ihr euch gerne selbst herausfordert, dieses Kitzeln, die Unsicherheit des Neuen im Magen mögt, euch eure eigene Entwicklung gar nicht schnell genug gehen kann, ist das auch okay. Ich hab das auch oft, ich weiß genau wie es euch geht. Aber wenn ihr es im Berufsleben tut, achtet darauf, dass das weiterhin professionell und für alle Beteiligten sicher abläuft. Und auch wenn man sich über Angstbewältigung entwickeln und wachsen kann: erzählt anderen Menschen doch bitte nicht, dass das der beste oder sogar der einzige Weg zur Selbstverbesserung wäre. Das braucht wirklich niemand.
(Das Beitragsbild ist von mir selbst)
Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Mehrere Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten agilen Transformationen im deutschsprachigen Raum, als Seniorberater hat er zuletzt für Chili and Change Organisationen zu Veränderung, Teamentwicklung und Agilität beraten. Aktuell ist er in der Organisationsentwicklung der Seibert Group, einem kollegial geführten, agilen Softwareunternehmen tätig. Sein Buch “Selbstorganisation im Team” ist im Juni 2023 bei Vahlen erschienen.