Wenn man sich in einem Kontext bewegt, in dem auch Agilität und Veränderung eine Rolle spielt, geht es im inhaltlichen Austausch früher oder später auch um das Thema Führung. Abgeleitet von einem mehr oder weniger tiefen Verständnis von Agilität sowohl im Sinne von Methoden und Prozessen, als auch in einer Betrachtung des vermeintlichen „agilen Mindsets“ und auch wenn es um Veränderungen und ganze Transformationen geht – immer wieder wird der Begriff Führung nicht nur gestreift, sondern um dieses Thema herum heiß diskutiert und gestritten.
Und wie mit dem Begriff Agilität selbst, ist auch Führung häufig aufgeladen mit unausgesprochenen Vorstellungen basierend auf mehr oder weniger guten Erfahrungen.
Romantisierte Bilder von Führung
Bereits vor vier Jahren habe ich deswegen meine Sicht auf den Begriff in aller Kürze formuliert. Letztendlich wird mit etwas Überlegung klar, dass Führung nur beobachtbar und wirksam wird, ja letztendlich nur existiert, wenn Menschen folgen und wenn die, denen Menschen folgen, die damit einhergehende Aufgabe und Verantwortung auch übernehmen. Und Menschen folgen aus unterschiedlichsten Gründen.
Das dabei gerade im agilen Umfeld häufig romantisierte Bild von „alle führen“ oder „Führung brauche es nicht“ erlebe ich als Wunschvorstellung, die weder bei Betrachtung von Systemen, noch von Menschen und Gruppen wirklich trägt. Gleiches gilt für die Idee, dass Führung automatisch dort entsteht, wo „coole Menschen“ einfach die „besten Ideen“ im Sinne der Organisation haben. Wir erinnern uns: Selbstorganisation bedeutet auch Selbsterhalt. Was sich also ohne Einfluss von außen – auch das ist Führung – selbst organisiert, wird sich nur verändern, wenn es für den Selbsterhalt notwendig ist.
Und die Hoffnung, dass das beste Verhältnis zwischen führenden und folgenden Menschen entsteht, wenn in Organisationen Menschen ihre formal Führungsverantwortlichen explizit wählen, nur weil an anderen Stellen Führung auch ohne formale Rollen zugeschrieben wird und stattfindet, bleiben meiner Erfahrung nach insgesamt punktuelle Glücksfälle und in breiter Masse eher eine Illusion.
Bei all dem habe ich den Eindruck, dass zwar bereits über die Teilung von Führung oder gar den völligen Verzicht von Führung in Organisationen nachgedacht und gesprochen wird, obwohl an manchen Stellen völlig unklar ist, welche Kernaufgaben in Führung eigentlich stecken. Dabei geht es mir hier weniger um handfeste operative Personalmanagement-Aufgaben, die häufig in formalen Führungsrollen verortet werden und die sich alle irgendwie anders verteilen lassen, sondern um ein paar andere Zusammenhänge bei der Übernahme einer expliziten oder impliziten Führungsaufgabe – also einer formal zugeschriebenen Führungsrolle oder einer anderweitig entstehenden Führung. Und dabei ist es erst mal unerheblich, welchem Führungsstil gefolgt wird. Denn welcher Führungsstil anschlussfähig ist und nachhaltig trägt, hängt von anderen Faktoren ab, als von der Frage, welchen Zweck Führung hat und welche Aufgaben Führung übernehmen soll.
Welche Aufgaben Führung erfüllen soll
Versucht man den Zweck der sozialen Funktion Führung auf das Wesentliche zu reduzieren, dann bleiben zwei zusammenhängende Aufgaben im Kern übrig. Führung gibt Orientierung und beeinflusst (auch dafür) bewusst die Richtung. Führung ist also ein Dienst für Menschen und Gruppen. Bei formaler Führung in Organisationen ist dieser Dienst im Auftrag der Organisation abgeleitet vom Zweck der Organisation (im besten Fall im Interesse des Kunden). Dabei spielt das Ausbalancieren von Strömungen und widersprüchlichen Interessen zum Beispiel zwischen Organisation und Mitarbeitenden, das Aushalten und Austarieren von Konflikten (Führung muss Unentscheidbares entscheiden) und die Initiierung und Begleitung von Veränderung eine wichtige Rolle. Wenn sich alle und alles gemeinsam in eine angestrebte Richtung bewegen würde, die Richtung also unveränderlich feststünde, Richtung und Bewegung abgeleitet von und entsprechend dieser Orientierung da wäre, bräuchte es keine (weitere) Führung.
Führung hat also eine wichtige Aufgabe in Organisationen unter anderem für und bei Veränderung, bedeutet Arbeit mit Menschen und sorgt in Komplexität für Entlastung. Da Menschen nicht irgendwelchen Ideen, sondern vor allem Menschen (denen sie folgen wollen) folgen, spielt eine große Rolle, wer in Führung geht.
Gleichzeitig bedeutet Führung im Kontext von Organisationen nicht, an Menschen zu arbeiten. Das können und müssen Menschen im Zuge ihrer Selbstführung eigenverantwortlich machen durch ein (hoffentlich gut) ausgebildetes Reflexionsvermögen, hier und da sicherlich auch unterstützt durch beispielsweise ausgebildete Coaches oder Psychologen oder eben auch durch führende Menschen, denen sie folgen. Es ist mir ganz wichtig: Niemand hat das Recht, aktiv in die Autonomie von (erwachsenen) Menschen einzugreifen, es sei denn sie haben die Erlaubnis durch den Menschen selbst erteilt bekommen. (Im besten Fall haben sie dafür auch eine entsprechende Ausbildung.)
Gewusst wie
Eine wichtige Aufgabe und Möglichkeit für Menschen in Führung ist, Systeme und deren Muster, Regeln und Prozesse in einer Form zu beeinflussen, dass ihnen folgende Menschen eigenständig ihr Verhalten darauf anpassen und verändern (wollen, können und dürfen). Wenn Menschen ihrer Führungsaufgabe gerecht werden und Orientierung geben, dann ist ein wirksames Mittel die Veränderung der Umgebung und eine Neugestaltung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit das gewünschte veränderte Verhalten anderer Menschen erzeugt. Wichtig hier: Eine Garantie gibt es nicht. Es kann nur nach der Veränderung überprüft werden, ob sie wirksam war und die intendierte Richtung eingeschlagen wird.
Um wirksam werden zu können ist es also hilfreich, grundlegende Logik von Systemen, deren Wirkzusammenhänge und Gesetze zu kennen. Das reicht aber aus meiner Sicht noch nicht aus. Denn ob die Veränderung der Umgebung zur intendierten Veränderung im Verhalten der Menschen führen wird, dazu ist auch ein psychologisches Verständnis von Menschen und Gruppen mehr als nur hilfreich. Wie Menschen in entsprechenden Situationen auf ihren Entwicklungsstufen generell funktionieren und wie sie sich in Gruppen verhalten, welche Dynamiken sich hier entwickeln und wie sie das Verhalten zusätzlich beeinflussen, ist wichtig zu wissen.
Wir wissen auch, dass nicht nur entscheidend ist, wie etwas gemacht wird, sondern auch wer etwas macht. Gerade bei zugeschriebenen und angenommenen Führungsaufgaben spielt also das individuelle Verhalten der Orientierung gebenden Person eine große Rolle. Organisationen, die heutzutage etwas verändern und sich zukunftsfähig aufstellen wollen, brauchen Menschen mit einer persönlichen Entwicklung, in der nicht mehr egozentriert gehandelt oder nur nach richtig und falsch entschieden, sondern in der in einer „sowohl als auch Logik“ integriert wird. Diese Menschen brauchen sowohl ein Verständnis von Systemen und deren Gesetzen, als auch für Menschen und Dynamiken von Gruppen und müssen eine gute Vorstellung von der Zukunft haben, in die Richtung beeinflusst werden soll.
Führung ist keine Frage von Talent, sondern von persönlichem Entwicklungsstand, einer hohen Bewusstheit, einem breiten Wissen und dem Können, dieses Wissen anzuwenden. Und Führung braucht neben geführt werden wollen auch führen wollen. Führung wird sichtbar, wenn Menschen folgen. Spätestens hier ist relevant, wie passfähig Führungsverständnis und -verhalten zu geführten Personen und Gruppen ist, wie gut sich also Menschen mit impliziter oder expliziter Führungsaufgabe durch ausgeprägte emotionale Intelligenz auf Menschen und Gruppen einstellen können, Wirkzusammenhänge verstehen und sowohl nutzen, als auch beeinflussen können.
Ich muss schon sagen
Verstanden habe ich noch nie, wie Führung in Organisationen als nebenläufige Sympathiebeschäftigung verstanden werden konnte, bei der im Fokus von Führung das Geschäft alleine stand. Auch fehlt mir das Verständnis, warum sich in manchen Unternehmen hartnäckig die Annahme hält, man könne Führung für Menschen mit einem Bruchteil der eigenen Arbeitszeit nebenbei erledigen. Oder woher die Vermutung stammt, dass größte Experten für ein Fachgebiet irgendwann ganz automatisch die Führung von anderen Menschen aus dem selben Fachgebiet übernehmen könnten. Denn außer einer möglichen höheren Akzeptanz der dann führenden Person und einem vermutlich tiefen Verständnis des Umfelds der zu führenden Personen fehlt häufig relevantes Wissen rund um Führung selbst. Und Hand aufs Herz: Welcher dieser frisch gebackenen Teamleiter für Fachgebiet X oder Y, die Führung übernehmen wollten, hat dafür rechtzeitig eine umfassende Ausbildung zum hochkomplexen Thema Führung genossen mit all dem Wissen, das Könnerschaft in dem Bereich erfordert?
Daraus resultiert übrigens auch: Wenn in Organisationen Führung breiter verteilt werden und möglichst jeder Führung übernehmen können soll, muss Führungswissen – also Wissen zur Logik von Systemen zur Psychologie von Menschen und der Dynamik von Gruppen – breit aufgebaut und individuelle Führungskompetenzentwicklung stark gefördert werden.
Führung ist kein Hexenwerk, sie ist nicht per se eine Gabe oder ein Talent, das manchen Menschen in die Wiege gelegt wurde und das für andere unerreichbar ist. Führung ist weder magisch noch Zauberei. Sie ist keine Frage von Hoffnung und Glück, die „richtigen“ Menschen für gute Führung in Organisationen zu finden. Es ist auch nichts, das automatisch in der Selbstorganisation von Systemen zufällig entsteht. Führung ist kein Hexenwerk, sondern eine komplexe Aufgabe für die, die führen wollen, harte Arbeit an sich selbst und am Wissensaufbau und dem Entwickeln von Können im Bereich der Systemgestaltung unter Berücksichtigung entsprechender Systemgesetze und der Psychologie von Menschen und Gruppen.
(Das Bild ist von Dannyqu – vielen Dank!)
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