Schulzeugnis

Jährliche Mitarbeitergespräche?

Es ist wieder soweit. Das Jahr neigt sich dem Ende, die Blätter fallen von den Bäumen, die Tage werden kürzer, es regnet mehr. All das wiederholt sich jedes Jahr. Und die Menschen in den Organisationen folgen ihrer jährlichen Pflicht, miteinander zu sprechen. Über Leistung. Es wird beurteilt. Wir nennen das in Unternehmen jetzt jährliche Feedbackgespräche. Das macht es nicht besser. Oder doch?

Der Konzern, in dem ich angestellt bin, hat bereits vor einigen Jahren ein neues Tool eingeführt, das unternehmensweit Feedback einholen und geben ermöglicht. Außerdem dient die Software dazu, aus klassischen Beurteilungsgesprächen moderne Mitarbeiterfeedbackgespräche zu machen, um Dialog zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden zu fördern und mittels Technologie sicherzustellen, dass die Gespräche auch tatsächlich stattfinden. Die Konzerngesellschaft, in der ich konkret beschäftigt bin, befand sich zu dem Zeitpunkt bereits in ihrer Transformation der Aufbauorganisation und es stellte sich bei der Einführung des für alle Konzerngesellschaften ausgerollten Tools die Frage, ob dieses verbindlich zu nutzende Tool für uns nötig, ausreichend oder überhaupt nutzbar sei. Wir haben nach einigen Piloten einen Weg gefunden, der nicht konträr zu unserer Sicht auf Menschen und Zusammenarbeit steht und uns gleichzeitig das Tool nutzen lässt. Viele von uns wissen wie das ist mit dem Dilemma zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung und wie “hilfreich” manche zentralen Entscheidungen und unternehmensweit einzusetzenden Tools im Einzelfall sind, wie notwendig sie manchmal dennoch sein können.

Was man allerdings nie vergessen darf: Sinn und Zweck von Tools ist Standardisierung und Konformität. Im Zusammenhang mit Mitarbeiterjahresgesprächen bedeutet das, dass alle Menschen im Unternehmen nach gleichen Kriterien betrachtet werden und das unterstützt bei allen Vorteilen vor allem Konformität statt Initiative. Immerhin findet in diesem Tool die Beurteilung unterschiedlicher Kriterien nicht auf einer Skala von gut bis schlecht statt. Stattdessen wird die Ausprägung besprochen, in der die einzelnen Punkte von “gelegentlich” bis “immer” beobachtbar sind. Mir geht es in diesem Artikel aber nicht um die Diskussion des Sinns zentraler Tools.

Was mich irritiert

Was mich persönlich mindestens einmal im Jahr irritiert ist, wie deutlich in unserem jährlichen Prozess wird, dass ein Tool eben nur ein Tool ist und ein Fool mit einem Tool oft weiter ein Fool bleibt. Denn ein Tool unterstützt Prozesse, ändert aber nicht zwingend generelle Haltung oder Sichtweisen. Dabei ist es unerheblich, wie dieses Tool gestaltet ist oder wie wir damit umgehen. Ein beurteilendes Mitarbeitergespräch einmal am Ende des Jahres ist eben nur ein einziges Mitarbeiterjahresgespräch.

Die Historie von Mitarbeiterjahresgesprächen ist nun bald 70 Jahre alt und sie gehören aus meiner Sicht zumindest in meinem Arbeitsumfeld als antiquierte Praktik in ein Museum gestellt. Die Idee entstand in den 50ern. In dieser Zeit reifte die Erkenntnis, dass Menschen bei der Arbeit ganz anders behandelt werden müssten als Werkzeug und Maschinen, dass miteinander reden doch schon irgendwie wichtig sei. Man nennt es heute die Humanisierung der Arbeitswelt. Die Herausforderung bereits damals war, dass Führungskräfte häufig aus ehemaligen Sacharbeitern entstanden, die sich durch hohe Expertise und nicht durch besondere Führungsfähigkeiten hervor getan hatten. Ein stringenter Prozess, in dem wenigstens einmal im Jahr miteinander gesprochen wird, war zu der Zeit vermutlich eine gute Lösung.

Kleine Nebenbemerkung: In vielen Unternehmen ist es immer noch so, dass Führung und Führungsspanne der wichtigste Karriereweg auch für fachliche Experten ist. Hier hat sich noch nicht das Verständnis durchgesetzt, dass Führungskompetenz eine eigene Kompetenz ist, die nicht automatisch entsteht durch hohe Fachexpertise. Und ich will nicht ausschließen, dass in solchen Kontexten toolgestützte jährliche Mitarbeitergespräch einen gewissen Wert haben.

In einem Markt mit hoher Dynamik und einer großen Nähe zwischen Kunde und Dienstleister, einer hohen Transparenz und ständig offensichtlicher Veränderung mit unterschiedlichsten Möglichkeiten zum Austausch über Chats, Foren, Telefon und E-Mails findet Kommunikation unentwegt statt. Da wirkt ein einziges Gespräch im Jahr zur Beurteilung von Leistung nicht nur albern bürokratisch, es läuft sogar Gefahr, erniedrigend zu wirken. Denn hier beurteilt im Zweifel eine Person die Leistung und das Verhalten einer anderen Person, die sich das gar nicht erlauben kann. Ihr fehlt oft das Wissen über die Arbeit der zu beurteilenden Mitarbeitenden und Fähigkeiten sowie Erfahrung im Zusammenhang mit solcherart Einschätzungen von Leistung und Verhalten anderer Menschen fehlt. Erschwerend kommt hinzu, dass “flachere” Hierarchien die Lage eher verschärfen als verbessern, weil hierdurch Führungsspannen wachsen und damit – so paradox das klingt – der Abstand zu den Mitarbeitenden und ihrem täglichen Geschäft wächst. Diese Situation lässt überhaupt nicht mehr zu adäquat beurteilen zu können, was Führungskräfte angehalten sind zu beurteilen. Bedeutet das also, dass in Unternehmen, die in einem Markt mit hoher Dynamik unterwegs sind, Gespräche zur Einschätzung von Leistung und Verhalten völlig ad acta gelegt werden sollten? Ja und nein.

Eine wichtige Aufgabe von Führung(skräften)

Mit Kolleg:innen im Austausch zu stehen ergibt sich aus der Zusammenarbeit im Team. Dabei voneinander und miteinander zu arbeiten und dabei auch zu lernen, welche Erwartungen wechselseitig bestehen und wie man in einer guten Zusammenarbeit Leistung für das Unternehmen erbringen kann, ist ein wesentliche Teil in der Entwicklung von Teams. Dazu gehört auch eine persönliche selbstgesteuerte Entwicklung jedes Einzelnen. Menschen orientieren sich am Kontext und passen sich an, lernen dabei unweigerlich und entwickeln sich weiter.

Diese Entwicklung von Menschen und Teams in einem größeren Kontext zu sehen, zu begleiten und diesen Prozessen sowohl auf Ebene der Teams, als auch in der Begleitung von Menschen Beachtung zu schenken, ist ein wichtiger Teil von Führung und damit häufig – so auch bei uns – über Verantwortlichkeiten geregelt, die in der Regel bei personalverantwortlichen Führungskräften zu finden sind. So weit so gut. Allerdings ist der Teil so wichtig, dass er nicht über nur ein Gespräch im Jahr erfüllt werden kann. Ich bin immer wieder überrascht, wie häufig mir Menschen in Führungsverantwortung begegnen, die diesen Job seit Monaten und Jahren machen und regelmäßige Termine mit den Mitarbeitenden bestenfalls für eine bereichernde, innovative Idee halten, häufig schlichtweg als unnötig ablehnen meist mit dem Argument, hierfür bliebe keine Zeit.

Die Begleitung, Beobachtung und der Dialog von Führungskräften mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist tagtägliche Aufgabe. Diese Aufgabe ist besonders herausfordernd in einer Zeit, in der eine ständige Infantilisierung der Arbeitswelt gerade auch im Verhältnis zwischen Führenden und Folgenden en vogue zu sein scheint. Der Kontakt und Dialog braucht einen erwachsenen, reflektierten und ehrlichen Umgang. Erwachsene in Organisationen als Erwachsene zu behandeln bedeutet auch, ihre persönliche Autonomie zu achten und ihnen dabei zuzumuten, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, also Entscheidungen eigenständig zu treffen. Vieles, was häufig in Mitarbeiterjahresgesprächen besprochen wird, ist das Gegenteil davon. Da geht es um das Einhalten von Werten, die Identifikation mit Teams oder Aufgaben oder Unternehmen. Es werden Coaching-Maßnahmen besprochen und Gesundheitsthemen diskutiert statt den Fokus klar auf die Verantwortlichkeiten, Aufgaben und deren Erfüllung – also auf den Markt und den Beitrag jedes Einzelnen zu guten Arbeitsergebnissen – zu lenken. Die kritische Betrachtung der Arbeitsleistung von außen und mit etwas Abstand durch Menschen in Führungsverantwortung braucht die Formulierung klarer Grenzen, Erwartungen und Fristen. Sie ist ein wertvoller anderer Blickwinkel der Erwachsenen helfen kann, sich zu orientieren um einfacher eigene Entscheidungen treffen zu können. Rückmeldungen aus diesem Blickwinkel müssen vor allem situativ unmittelbar, als auch passend zu den Situationen stattfinden, statt nur einmal im Jahr.

Und was mache ich damit?

Mit meinen Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen arbeite ich wöchentlich, teilweise täglich zusammen. Wir gestalten gemeinsam unterschiedliche Themen. Monatlich haben wir mindestens einen Termin zu zweit, der meinen Mitarbeiter:innen “gehört”. Hier bringen Sie ihre Themen, vielleicht Sorgen und Nöte mit, über die sie mit mir sprechen möchten und ich nutze den Termin, um meinerseits Fragen zu stellen oder meine eigenen Sichtweisen und Wahrnehmungen zu teilen. Wir sind also kontinuierlich im Gespräch.

Die jährlichen Gespräche muss ich führen – sowohl als Mitarbeiter, als auch in meiner Rolle als Führungskraft. In meiner Rolle als Führungskraft habe ich meinen Frieden damit geschlossen, indem ich es inhaltlich so gestalte, dass es – so hoffe ich – sowohl für meine Mitarbeitenden als auch für mich einen Mehrwert bietet. Für uns ist das Jahresgespräch mit seiner Gesamtbeurteilungen ein zusätzliches Gespräch, in dem wir fokussiert bestimmte Fragen und einzelne Themen betrachten und eine Zusammenfassung der Erlebnisse und Erfahrungen aus dem vorangegangenen Jahr machen.

Vor dem Gespräch haben alle Mitarbeitenden die Gelegenheit, sich Feedback geben zu lassen zu den gleichen Themen, die wir auch im Jahresgespräch betrachten. Dabei wählen die Mitarbeitenden ihre Feedbackgebenden selbst aus. Und sie müssen selbst entscheiden, ob und wie sie das Feedback für sich nutzen und auch, ob sie es mit mir teilen wollen, oder nicht.

In den Mitarbeiterjahresgesprächen reden wir dann vor allem über die Selbsteinschätzung der Menschen. Sie bringen ihre Sicht auf sich selbst mit, teilen mit mir was sie teilen möchten und ich gebe ihnen eine Rückmeldung, wie meine Einschätzung ist und was ich in unser unterstützendes Tool eintrage. Meine Einschätzung möchte ich dabei als genau solche verstanden wissen – keine Beurteilung des Menschen sondern meine Sicht auf ihr Verhalten und ihre Leistung, möglichst klar, durchaus kritisch und dabei immer respektvoll. Das ist die Verantwortlichkeit meiner Rolle als Führungskraft. Weicht die Sicht des Mitarbeitenden von meiner ab, erwähne ich das in den Kommentaren und wenn ich etwas aus meiner eigenen Zusammenarbeit und den Rückmeldungen anderer glaube nicht beurteilen zu können, übernehme ich gerne die Selbsteinschätzung der Mitarbeitenden. Mein Ziel ist also ingesamt, den ganzen verbindlichen Prozess so zu nutzen, dass er Menschen eine Hilfe sein kann für die eigene Entwicklung und mir, um mein eigenes Bild zu überprüfen.

Meine Einschätzung als personalverantwortliche Führungskraft ist nicht die einzige Wahrheit, sondern meine Sicht, die sicher alleine durch meine Rolle eine gewisse Auswirkung hat. Welches Gewicht meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem aber für sich selbst geben, entscheiden sie auch selbst. Ziel des Gesprächs ist nicht die Einigkeit, sondern der Austausch vielleicht unterschiedlicher Sichtweisen mit der Möglichkeit für mich, meine Einschätzung zu überprüfen und als ein Einladung für Mitarbeitende und mich, in der nächsten Zeit genauer hinzusehen. So lässt sich das eigene Bild verifizieren und gibt einen Hinweis für die regelmäßigen Gespräche, an welchen Stellen sich Mitarbeitende weiterentwickeln können, wenn sie das möchten. Es ist ein sehr respektvolles Gespräch, aber keins, um auch das ganz klar zu sagen, in einer Beziehung auf “Augenhöhe”. Wir sind in dem Mitarbeiterjahresgespräch nicht gleich, weil ich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einschätze – nicht umgekehrt. Das bedeutet dennoch nicht, dass Menschen meine Sicht übernehmen müssen. Sie müssen sich auch nicht ändern. Es ist ihre Entscheidung als Erwachsene im Unternehmen, wie sie mit Rückmeldung, Einschätzung und auch kritischem Feedback und möglichen Konsequenzen aus ihrem Handeln umgehen.

Nicht selten entsteht aus dem regelmäßigen Austausch und der fokussierten Zusammenfassung im Rahmen des Mitarbeiterjahresgesprächs eine Idee für Veränderung oder Weiterentwicklung, die wir dann in Folgegesprächen weiter vertiefen, ausarbeiten, gemeinsam überlegen wer welche Schritte geht und wie eine Unterstützung dafür aussehen kann. Also kann ich sagen: Ein jährliches Mitarbeitergespräch kann nützlich sein, ist in meinem Arbeitskontext aus meiner persönlichen Sicht aber absolut nicht ausreichend. Nur ein Gespräch im Jahr ist viel zu selten und dadurch viel zu weit weg von konkreten Situationen, um einen wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung leisten zu können.

Nebenbemerkung zu Augenhöhe

Unter Führung auf Augenhöhe wird in der Regel ein wertschätzender Führungsstil verstanden, bei dem es um konstruktives Kritisieren, Vertrauen und einen respektvollen Umgang geht. Beziehungen auf Augenhöhe gehen aber weiter. Hier geht es darum, (rechtlich) gleichgestellt und gleichrangig zu sein. Erstes ist für mich eine Selbstverständlichkeit im Umgang aller Kolleg:innen untereinander. Zweites die Beschreibung der Beziehung zwischen mir und meinen Mitarbeitenden.

Was wir heutzutage viel zu oft in der häufigen Überhöhung einer vermeintlichen Augenhöhe in Unternehmen gerade auch im Zusammenhang mit Mitarbeitergesprächen oft vernachlässigen: Wir gehen in Unternehmen Leistungspartnerschaften ein und sind keine Familie. Wir können und sollen im Austausch sein und gemeinsame Erwartungsräume entwickeln, miteinander um Lösungen streiten und eine respektvolle und gute Zusammenarbeit pflegen. Wir sind dabei aber nicht nur unterschiedliche Menschen, sondern Kolleg:innen mit unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten, die nicht alle gleichgestellt oder gleichrangig sind. Manche stehen auf Augenhöhe zueinander und manche nicht. Und wir alle haben bei allen unterschiedlichen Rängen und Unterschiedlichkeiten gleichermaßen das Recht selbst zu entscheiden, wie sehr wir uns einbringen und mitteilen, uns anpassen, verändern oder entwickeln möchten, wie sehr wir in Initiative gehen und wie sehr wir bereit sind, Erwartungen zu erfüllen oder auch nicht.

(Das Bild ist von Tim Reckmann – vielen Dank!)

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