Kaum ein Begriff kommt mir derzeit mehr unter, als “Emotionale Intelligenz”. Vielleicht liegt das an meiner aktuellen Rolle mit Führungsverantwortung für Menschen mit Führungsverantwortung oder an meiner aktuellen Situation. Wenn ein Begriff als Schlagwort auftaucht sind sich schnell alle einig – auch hier: Menschen, insbesondere mit Führungsverantwortung, brauchen emotionale Intelligenz.
Gleichzeitig ist es so, dass mich “Menschen brauchen dies” oder “Menschen brauchen das” eher aufhorchen lässt. Denn meistens handelt es sich bei solchen Aussagen um eine Verallgemeinerung von Wünschen, die an andere Menschen gestellt werden. Und die Gefahr solcher pauschalisierter Zuschreibungen ist, dass sich alle schnell einig werden und gleichzeitig alle etwas anderes darunter verstehen. Bestes Beispiel sind für mich hier Begriffe wie Agilität und New Work, mit denen häufig eine Sehnsucht pauschalisiert wird, die von Tischkicker bis Selbstbestimmung alles beinhalten kann. Was “emotionaler Intelligenz” in meinem Erleben oft anhaftet ist die simplifizierte Anforderung an Führungskräfte, gute Freundschaft mit allen Mitarbeitenden aufbauen und für eine gute Stimmung in Teams sorgen zu können.
Wenn also Menschen sich von anderen – insbesondere von Menschen mit zugeschriebenen Führungsaufgaben – emotionale Intelligenz wünschen oder sie sogar einfordern, ist es nicht das Schlechteste, etwas genauer zu formulieren, was genau emotionale Intelligenz bedeutet und was hier gefordert oder gewünscht wird.
Was ist emotionale Intelligenz?
Die Forscher John D. Mayer und Peter Salovey aus den USA formulierten den Begriff “emotionale Intelligenz” bereits in den 90er Jahren. Sie führten hier die Definition von Edward Thorndike aus den 1920er Jahren fort. Thorndike formulierte damals bereits die soziale Intelligenz. Knapp zusammengefasst bedeutet für Mayer und Salovey emotionale Intelligenz:
- Eigene Gefühle wahrnehmen und verstehen können
- Eigene Gefühle und darauf basierende Handlungen kontrollieren
- Gefühle Anderer richtig lesen und verstehen können
- Zwischenmenschliche Beziehungen überlegt beeinflussen können
Eigene Gefühle wahrnehmen und verstehen können
Um mit etwas arbeiten zu können, muss man es erst wahrnehmen können. So selbstverständlich das zunächst klingt, so herausfordernd ist dieser Schritt bereits. Mein Jahr in der Mediationsausbildung hat mich sehr deutlich spüren lassen, wie schwer es ist die eigenen Gefühle genau zu verstehen. Hinzu kommt, dass Menschen auch immer wieder dazu neigen, Gefühle bewusst oder unterbewusst zu unterdrücken. Sich selbst beobachten und aufkommende Gefühle zu akzeptieren – auch die unangenehmen – ohne sie zu bewerten oder gleich wieder wegzuschieben sind eine wichtige Grundlage, um die Ursachen der Gefühle herausfinden und überhaupt mit ihnen arbeiten zu können.
Eigene Gefühle und darauf basierende Handlungen kontrollieren
Erst wenn Mensch die eigenen Gefühle kennt, lässt sich mit ihnen aktiv umgehen. Es besteht beispielsweise die Möglichkeit, negative Gefühle abzuschwächen oder positive zu verstärken. Die eigenen Gefühle von einer Meta-Ebene betrachten zu können gibt auch die Möglichkeit, sie zu beschreiben und beispielsweise mögliche Konflikte ruhig und sachlich zu klären, ohne dabei die Gefühle selbst unterdrücken zu müssen.
Gefühle anderer richtig lesen und verstehen können
Einfühlungsvermögen braucht die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen erkennen und deuten zu können. Neben gesprochenen Worten gehören dazu auch Körpersprache, Gesichtsausdruck und Ähnliches. Dazu gehört neben einem guten Verständnis eigener Gefühle auch die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen möglichst entkoppelt von den eigenen zu deuten. Ein gutes Einfühlungsvermögen – also eine hohe Empathie – sind eine Grundlage von gesunden Beziehungen, auch denen im beruflichen Alltag. Und erst wenn ich die Gefühle anderer deuten kann, kann ich gut mit ihnen umgehen und einen wichtigen Teil zu einem positiven Arbeitsklima beitragen.
Zwischenmenschliche Beziehungen überlegt beeinflussen können
Eine gute Zusammenarbeit ist eine wichtige Grundlage in den meisten Arbeitsumgebungen. In guten Fällen spielt einfach so alles gut zusammen. Alle Menschen haben eine hohe emotionale Intelligenz oder sind sich so ähnlich, dass ein gegenseitiges Verständnis vorhanden ist. Die Menschen verstehen sich selbst und die anderen, können sich einfühlen und somit insgesamt für ein gutes Miteinander sorgen. Wer seine eigenen Gefühle kennt und die der Mitmenschen deuten kann, kann mit hohem Einfühlungsvermögen handeln und damit zwischenmenschliche Beziehungen steuern. Für Menschen mit zugeschriebener Führungsverantwortung ist das besonders relevant, da deren Aufgabe auch ist, einen guten Rahmen für die (Zusammen-)Arbeit zu schaffen.
Woran erkenne ich emotionale Intelligenz?
Schön und gut. Klingt einfach, ist allerdings sehr intensive Arbeit, die – wenn ich das von meiner eigenen Mediationsausbildung im letzten Jahr ableite – herausfordernd und sehr persönlich wird. Gerade die entscheidende Grundlage, eigene Gefühle wahrnehmen und verstehen zu können, kann es in sich haben. Da alles rund um emotionale Intelligenz im Innern von Menschen stattfindet stellt sich die Frage, woran man emotionale Intelligenz erkennt – im Außen bei anderen und vor allem bei sich selbst. Hierzu habe ich eine für mich spannende Liste von 10 Dingen gefunden, die emotional intelligente Menschen nicht machen. Formuliert hat sie Brianna West in einem Artikel in der Huffington Post bereits 2015 mit einem Update 2016. Ich habe die Liste genommen und aus meinem Verständnis heraus formuliert und ergänzt.
Gefühlswelt und Realität
Emotional intelligente Menschen glauben nicht, dass ihre Gefühle unbedingt die Realität widerspiegeln und leiten davon auch nicht ab, wie Situationen sich weiter entwicklen oder ausgehen. Sie wissen, dass ihre eigenen Gefühle Reaktionen auf das sind, was passiert und dass diese Reaktionen oft mehr mit ihnen selbst zu tun haben, als mit dem was sie in der Umwelt beobachten.
Verantwortung für eigene Gefühlswelt
Emotional intelligente Menschen übernehmen Verantwortung für die eigenen Gefühle und machen nicht andere Menschen dafür verantwortlich. Ursache für ihre Emotionen sind nicht das Problem von jemand anderem, das es zu lösen gilt. Es ist nicht die Umwelt, die etwas falsch gemacht hat und deswegen als Verursachende korrigieren oder korrigiert werden muss. Sie verstehen, dass sie selbst die Ursache für das sind, was sie erleben und fühlen. Das bewahrt sie davor, in eine Falle empörter Passivität zu tappen.
Unwissen was glücklich macht
Emotional intelligente Menschen verstehen, dass sie sich in ihren Überlegungen nur auf die Vergangenheit beziehen und die Zukunft nicht vorhersehen können. Auf Basis der Vergangenheit erkennen sie, welche Erfahrungen ihnen nicht gefallen haben. Sie wissen, wie sie davor geschützt oder gerettet werden beziehungsweise sich selbst schützen oder retten könnten. Und sie wissen, dass sie davon nicht die Zukunft ableiten können, da es in Allem zu gleichen Teilen Gutes und Schlechtes gibt und sie Entwicklung nicht vorhersagen können. Sie können sich öffnen für jede neue Erfahrung, die sich im Leben entwickelt ohne zu wissen, ob sie das glücklich machen wird.
Glück als anhaltender Zustand
Emotional intelligente Menschen nehmen sich Zeit, alles Erlebte zu verarbeiten und sich mit ihren Gefühlen und Erfahrungen auseinanderzusetzen – auch mit den Negativen. Sie erlauben sich so zu sein wie es gerade ist und gehen auch in wenig glücklichen Momenten nicht in einen Widerstand zu den Gefühlen. Zufriedenheit entsteht durch die Akzeptanz so sein zu dürfen, wie man gerade ist und sich gerade fühlt. Emotional intelligente Menschen sind nicht in der Illusion gefangen, dass Glück ein anhaltender Zustand von Freude ist.
Angst und der richtige Weg
Menschen begeben sich in der Regel nicht gerne in Unsicherheit. Unsicherheit erzeugt abhängig von ihrer Größe und der eigenen Verfassung mehr oder weniger ausgeprägte Angst. Emotional intelligente Menschen wissen, dass Angst auch ein Indiz dafür ist, dass sie sich auf etwas (neues) zubewegen, das sie anzieht und dass es alte Überzeugungen oder bisher ungeheilte Erfahrungen sind, die sich der neuen Erfahrung entgegen stellen.
Kein Untergang
Emotional intelligente Menschen wissen, dass sie durch ihre negativen Gefühle nicht völlig untergehen werden. Sie sind sich bewusst, dass die negativen Gefühle vorbei gehen werden und haben das Durchhaltevermögen, diese Zeit zu überstehen.
Gesellschaftlicher Druck
Menschen unterliegen gesellschaftlichem Druck und oft einem Drang zur Anpassung. Emotional intelligente Menschen wissen, dass Denkweisen und Meinungen immer wieder von außen aufgedrückt werden und erkennen, wenn es nicht die eigenen sind. Sie überprüfen die eigenen Überzeugungen, reflektieren ihre Ursprünge und entscheiden, ob die Denkweisen und Meinungen von außen einen Nutzen für die eigenen Gefühle haben.
Zwischen Reiz und Reaktion
Emotional intelligente Menschen sind nicht immer gelassen oder unemotional. Sie versuchen nicht ständig ihre Gefühle so sehr zu zügeln, dass sie nahezu verschwunden sind. Sie können aber einschätzen, wann richtiger Zeitpunkt und Ort sind, um ihre Gefühle auzudrücken. Emotional intelligente Menschen unterdrücken ihre Gefühle nicht, sie können sie steuern.
Nähe als bewusste Entscheidung
Emotional Intelligente Menschen begegnen anderen Menschen mit Freundlichkeit. Das bedeutet nicht, dass sie für alle Menschen immer offen sind und ihre Emotionen mit jedem Menschen teilen. Sie erkennen, dass Intimität und Vertrauen etwas ist, das man aufbauen und pflegen muss und entscheiden sich bewusst, bei welchen Menschen sie welche Nähe zulassen. Sie teilen ihre Gefühle mit den für sie Richtigen. Sie sind nicht verschlossen gegenüber Menschen aber achtsam mit sich selbst und entscheiden, wen sie wie sehr in ihr Herz und ihr Leben lassen.
Rückschlüsse aus schlechten Gefühlen
Emotional intelligente Menschen vermeiden, aus der Gegenwart die Zukunft vorhersehen zu wollen. Sie leiten von schlechten Gefühlen nicht ab, dass die Zukunft düster und schlecht ist sondern erkennen, dass Gefühle immer nur temporär sind und man ihnen mit einer gewissen Gelassenheit begegnen kann und muss.
Relevanz für Führung
Führung ist heutzutage gerade im Umfeld von Wissens- und Kreativarbeitenden eine große Herausforderung. Neben einem coachenden Führungsstil und der Fähigkeit, Prozesse zu moderieren und Menschen zu unterstützen und zu begleiten braucht es noch weit mehr. Zur Führungsaufgabe – gerade bei formell zugeschriebener Führung – gehört auch, aktiv einzugreifen wenn sich Dinge absehbar in falsche Richtungen bewegen. Und für das gesamte Umfeld gilt es, als Visionär:in nach vorne zu gehen und Orientierung durch Rahmen zu bieten. Führung bedeutet die bewusste Beeinflussung von Richtung und in diesem Arbeitsumfeld bedeutet das auch verändern und gestalten mit und für Menschen, mal offener und freier und mal direktiver. Und es bedeutet immer, die Zusammenarbeit zu beeinflussen und (mit-)zugestalten mit Zielen und guten Überlegungen und ohne den genauen Weg vorhersagen zu können.
Emotional intelligenten Menschen fällt es leichter, sich abzugrenzen, gleichzeitig Emotionen zuzulassen, mit ihnen zu arbeiten und davon ableitend Handlungen zu steuern und Beziehungen aktiv zu beeinflussen. All das sind wichtige Fähigkeiten für eine gute Zusammenarbeit bei allen Menschen, insbesondere bei Systemgestaltenden in Führungsverantwortung. Emotionale Intelligenz lässt sich üben und damit auch erlernen. Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, sie wahrnehmen und zu verstehen um sie dann steuern zu können. Erst von der Basis gelingt eine Abgrenzung und damit auch die Möglichkeit, die Gefühle der Kolleg:innen deuten und so zwischenmenschliche Beziehungen bewusst und aktiv beeinflussen zu können.
(Das Bild ist von Christoph Seiffert – vielen Dank!)
2 Comments
Leave a CommentLieber Daniel, sehr interessante Überlegungen. Es hat Spass gemacht sie zu lesen. Aus meiner Perspektive, schön geschrieben.
Eine Anmerkung zu “dem Frankl Zitat”. Ich wurde a mal darauf hingewiesen, dass es nicht von Frankl stammt. Habe daher in Wien beim Frankl-Zentrum nachgefragt.
Und bekam folgende Antwort:
Dieses Zitat findet sich in der Kurzversion „Zwischen Reiz und Reaktion hat der Mensch die Freiheit zu wählen.“ im Buch „Die 7 Wege der Effektivität“ (2004) von Stephen Covey.
2005 hat Stephen Covey im Vorwort zum Buch von Alex Pattakos „Gefangene unserer Gedanken“ beschrieben, wo er dieses Zitat gefunden hat: in den 1960er Jahren hat er Frankls Bücher gelesen und Jahre später hat er in einer Universitätsbibliothek in Hawaii in einem Buch eines unbekannten Autors die Bestätigung von Frankls Lehren gefunden hat. Das Zitat des unbekannten Autors lautet: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Hiatus. In diesem Hiatus liegt unsere Freiheit, weil er uns ermöglicht, uns für eine Reaktion zu entscheiden. Mit unserer Reaktion beeinflussen wir unser Wachstum und unser Glück.”
2007 hat Stephen Covey in seinem Buch „Der Weg zum Wesentlichen“ das Zitat in der geläufigen Version aufgeschrieben: “Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.”
Der Autor ist also Stephen Covey.
Hallo Jörg. Vielen Dank für den Hinweis. Ich ändere das im Text.