Experiment

Keine Experimente

Immer wieder begegnet mir im Alltag, in Literatur, in Leitsätzen: Wir müssen experimentieren. Wir bräuchten Experimente. Das ist mir nicht neu. Auch ich habe das immer wieder genau so oder ähnlich gesagt und geschrieben. Mittlerweile betrachte ich das kritischer.

Richtig ist, dass wir in Komplexität vor einer Handlung die Auswirkungen der Handlung nicht sicher völlig überblicken können und erst hinterher wissen, ob eine Entscheidung gut war. Wir können also Dinge ausprobieren und sollten dabei mit Überraschungen rechnen. Richtig ist, dass wir Auswirkungen auf unsere Entscheidungen und die Anderer beobachten und daraus unsere Schlüsse für nächste Schritte ziehen können. Sollten wir das Handeln in Komplexität deswegen immer wieder Experimente nennen? Meiner Meinung nach nein.

Experiment ist kein geeigneter Begriff

Lebendige Systeme sind immer komplex. Also sind Organisationen von Menschen (und damit Unternehmen) komplex. Gute Analyse und Planung geben keine Ergebnissicherheit. Entsprechend empfehlen sich Emergenz zulassende agile Methoden für Zusammenarbeit von Menschen. Dabei kann die konkrete Erledigung der Aufgaben selbst auch anders sinnvoll sein. Wenn der Umstand, dass wir in der Zusammenarbeit zwischen Menschen Ergebnisse nicht sicher vorhersagen können ausreicht, unser Handeln als Experiment zu bezeichnen, befinden wir uns unaufhörlich im Experimentiermodus. Kann und sollte das so sein?

Wollen wir Teil von Experimenten sein?

In einem wissenschaftlichen Experiment wird eine zu untersuchende Hypothese formuliert und vor dem Experiment genau überlegt, wie diese Hypothese überprüft und gegebenenfalls bestätigt werden kann. Ein immer gleicher Versuchsaufbau wird installiert und möglichst häufig durchgeführt, um durch eine große Menge an Versuchen statistische Abweichungen herauszufiltern und verlässliche Aussagen zu bekommen. Das Experiment findet in einem „Labor“ statt und kann per se nicht scheitern, weil das Ziel nicht Veränderung zum Besseren, sondern Erkenntnisgewinn ist und sowohl eine Bestätigung als auch Widerlegung der Hypothese diesen Zweck erfüllt.

Experimente dieser Art finden beispielsweise mit Tieren statt – in der Regel um Aussagen über ihr Verhalten oder die Auswirkungen von unterschiedlichen Einflüssen herauszufinden. Mit Menschen werden Experimente von ausgebildeten Medizinern oder Psychologen gut vorbereitet durchgeführt und können dennoch – wie beispielsweise beim sehr bekannten (und verfilmten) Stanford Prison Experiment – so problematische Entwicklungen nehmen, dass sie vorzeitig abgebrochen werden müssen. Und das obwohl sich die Teilnehmenden (immerhin) um der Regel im Gegensatz zu Tieren in Tierversuchen, freiwillig gemeldet haben. Gleichzeitig wird die Aussagefähigkeit solcher Experimente genau deswegen in Frage gestellt, weil eine völlig „normale“ Verhaltensweise so nicht mehr gewährleistet werden kann.

Mit Menschen in Organisationen gegen ihren Willen und ohne ihr Wissen und ohne ihre freie Entscheidung Experimente auszuprobieren, ist ethisch fragwürdig. Das Mindeste bei Experimenten in Organisationen wäre die Freiwilligkeit der Teilnahme – was die Aussagefähigkeit einschränken würde. Und ist die Freiwilligkeit bei den typischen als Experiment betitelten Maßnahmen wirklich immer gegeben? Und lässt sich mit Menschen in Organisationen ein und das selbe Experiment wirklich replizieren?

Sind es wirklich Experimente?

Oft, sehr oft, – ich glaube fast immer – erlebe ich es anders. Tatsächlich geht es – wenn von Experiment gesprochen wird – häufig eher um eine Veränderung, Entscheidung oder Handlung mit einem unklaren Ausgang, nicht um eine zu überprüfende Hypothese.

Gepaart wird die Verwendung des Begriffs „Experiment“ häufig mit der Aussage, man müsse „einfach mal machen“. Gerade dann geht es nicht um eine (statistische) Überprüfung von Auswirkungen oder Verhalten, sondern um das fehlende Wissen oder die fehlende Bereitschaft, Dinge vorab ausreichend zu durchdenken oder sich so vorzubereiten, dass ein Mindestmaß an Sicherheit für die betroffenen Menschen besteht. Etwas flapsig gesprochen könnte man sagen, dass „einfach mal machen“ und „lass uns mal experimentieren“ herhalten müssen, wenn die Menschen, die das sogenannte Experiment durchführen wollen, eigentlich keine Ahnung haben. Und diese fehlende Ahnung beinhaltet häufig sowohl die fehlende Überlegung, wie man irgendwo hin kommt, als auch die Unwissenheit, was man eigentlich erreichen möchte. Und dieses Vorgehen erzeugt Unsicherheit für alle Beteiligten und Betroffenen. Tatsächlich sollte man nicht leichtfertig handeln, schon gar nicht, wenn man keine Ahnung hat, wozu und wie. Zum einen kann das zu Schwierigkeiten und Leid bei Menschen führen. Zum anderen sind diese Schritte immer irreversibel.

Es gibt keinen Weg zurück

Bei Experimenten gibt es aus Sicht des Experiments in der Regel einen Weg zum Ausgangspunkt zurück. Der spezielle Versuchsaufbau in einem „Labor“ wird nach Überprüfung der Hypothese abgebaut. Das Analysierte oder Gelernte und durch das Experiment abgesicherte Wissen fließt in ganz andere Situationen ein. In der Zusammenarbeit von Menschen gibt es allerdings dieses Labor nicht. Wird etwas mit Menschen ausprobiert, hat das unweigerlich Auswirkungen und nimmt Einfluss auf die Menschen. Sie lernen und reagieren darauf. Die Erfahrung aus einem „Experiment“ beeinflusst das direkte und zukünftige Verhalten und damit langfristig auch die Haltung von Menschen. Ein Experiment mit Menschen in ihrer Zusammenarbeit kann nicht zurückgedreht werden. Es lässt sich nicht so tun, als wäre es nicht passiert. Jedes vermeintliche Experiment mit Menschen ist eigentlich keins, weil es nicht im Labor stattfindet und nicht zurück gedreht werden kann. Stattdessen hat es Auswirkungen und wird immer auch etwas verändern.

Expeditionen

Uns muss in der Zusammenarbeit mit Menschen klar sein, dass wir eine Verantwortung haben. Einfach mal machen ist verantwortungslos und Versuchskaninchen in Experimenten Anderer möchte sicherlich niemand sein.

Stattdessen können Menschen miteinander Expeditionen wagen und gemeinsam überlegen, welche nächsten Schritte sie gehen möchten. Dabei können sie auch definieren, was ihr Ziel mit dem nächsten Schritt ist und welche Maßnahmen sie dafür ergreifen wollen. Sie können überlegen, woran sie erkennen, dass sie in die richtige Richtung laufen und wann und wie sie das überprüfen wollen. Angstfrei wird die Umgebung, wenn die beteiligten Menschen selbst über ihre Beteiligung entscheiden und sich auf die Expedition und die nächsten Schritte alleine und gemeinsam vorbereiten, einlassen, daraus lernen und sich kontinuierliche weiterbewegen und weiterentwickeln können.

2 Comments

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  1. Danke für die Denkanregungen. Ich hatte bei dem oft strapzierten Begriff Experiment auch immer schon ein komisches Gefühl. Du hast es hier schön auf den Punkt gebracht.

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