Rettungsring

Angst vor Neuem und geliebtes Altes

Menschen sind sehr anpassungsfähig. Ohne diese Fähigkeit wäre die Menschheit nicht da, wo sie jetzt ist. Trotzdem hält sich der Mythos, dass Veränderung schwer sei und Menschen, die sich mit Veränderung zum Beispiel in Unternehmen beschäftigen, bestätigen: es geht nicht schnell, ist viel Arbeit und mit hohen Widerständen verbunden. Auf den ersten Blick passt das nicht zusammen. Menschen sind anpassungsfähig und Veränderungen mit Menschen sind schwer?

Peter Senge, Direktor des 1991 gegründeten Center for Organizational Learning an der MIT Sloan School of Management in Cambridge (Massachusetts) und Vorsitzender der 1997 gegründeten Society for Organizational Learning (SoL), sagte mal: “People don’t resist change. They resist being changed!” Aber ist das schon die ganze Wahrheit? Muss nur die Veränderung aus den Menschen selbst kommen, und alles wird gut? Sicher ist die Beteiligung der Menschen an der Veränderung ein guter Ansatz. Tatsächlich gibt es aber psychologische und sogar neurologische Effekte, die ihren Beitrag dazu leisten, dass Agilität häufig scheitert.

Wir bleiben lieber bei Gewohntem

Etwas Neues zu beginnen bedeutet in der Regel auch, etwas Altes zu beenden. Warum wir lieber bei Altbekanntem bleiben, wissen Psychologen, Psychiater und Neurobiologen mittlerweile recht genau: Grund dafür sind Eigenarten unseres Gehirns, unsere Urängste und unser Wunsch nach Bindung.

Es ist für Menschen natürlich, etwas festzuhalten. So klammern sich Babies beispielsweise an einen Finger, den man ihnen in die Hand legt. Loslassen müssen wir erst lernen. Sicherheit ist ein biologisch verankertes Grundbedürfnis. Da ist es verständlich, dass Unsicherheit bei vielen Menschen Unbehagen oder sogar Angst auslöst. Umgekehrt führt Angst zur Aktivierung des Bindungssystem. Hinzu kommt, dass Neues zu verarbeiten eine große Anstrengung für unser Gehirn bedeutet. Es verbraucht viel Sauerstoff und Zucker und versucht beim Bewältigen von komplexen Aufgaben Energie zu sparen, indem es möglichst viel Tun in möglichst automatisierte Routinehandlungen umwandelt und die Ausführung dieser Gewohnheiten mit körpereigenen Opiaten belohnt. Wir fühlen uns also beim Ausführen von Gewohnheiten wohl. Etwa 30 bis 50 Prozent des täglichen Handelns werden durch Gewohnheiten bestimmt.

Ausgeprägte Widerstände des Gehirns und tief verwurzelte Bindungsängste halten etwa 80 Prozent der Menschen bei Gewohntem, selbst wenn das Gewohnte an sich nicht mehr grundlegend positiv betrachtet wird. Lediglich 20 Prozent der Menschen haben genetisch bedingt mehr Spaß an Neuem. Es fällt uns Menschen also größtenteils nicht leicht, etwas anders zu machen.

Nicht die Veränderung selbst ist das Problem

Interessanterweise ist “agil sein” im Privatleben an vielen Stellen vollkommen selbstverständlich. Kaum ein Mensch wird, auch wenn er einen Plan für eine Reise von A nach B gemacht hat, ein Problem haben, sich auf eine andere Strecke für die Reise einzulassen, wenn der ursprüngliche Plan durch Staus und Behinderungen als eine schlechtere Lösung wahrgenommen wird, als eine neue Strecke. Das hat mehrere Gründe.

  • Das Ziel ist selbst gewählt, wird als wichtig erachtet und ändert sich nicht.
  • Die Entscheidung, einen anderen Weg zu wählen, wird eigenverantwortlich getroffen.
  • Der neue Weg wird als Verbesserung wahrgenommen.

Das Problem ist also nicht die Veränderung selbst. Die macht uns keine Angst, sondern eine Anpassung an etwas Neues, meist Unbekanntes – was in diesem Beispiel nicht zutreffend ist, weil sich das Ziel selbst nicht ändert. Das ist ein kleiner aber feiner Unterschied.

Wie sagte es Niels Pfläging so schön: “Widerstand gegen Veränderung gibt es nicht – nur intelligente Reaktion auf blöde Methode”. Eine solche “blöde neue Methode” könnte etwas sein, bei dem sich die Menschen schwach, hilflos oder überfordert fühlen, was sie sich nicht zutrauen – sowohl bei Maßnahmen für die Veränderung selbst, als auch beim erwarteten Zielzustand. Der Blickwinkel muss also vom Akt der Veränderung selbst stärker auf die Gestaltung des Neuen gelegt werden. Was privat gut funktioniert, erlauben wir (uns) bei der Arbeit häufig nicht. Hier sind Pläne von irgendwem in Stein gemeißelt, Vorgänge extern festgelegt, langfristige Ziele von anderen definiert.

Menschen sind agil

Menschen an sich sind agil, haben einen stabilen Kern aus inneren Werten und Überzeugungen, passen ihr Verhalten und ihre Bewertung aber dauernd ganz und gar beweglich und flexibel an die Umgebung an. In der Vergangenheit wurde diese eigenverantwortliche Beweglichkeit bei der Arbeit reglementiert oder verhindert und hat daraus ein Gefühl von Sicherheit entstehen lassen. Die dafür gestrickten Pläne und Strukturen behindern heute aber oft mehr, als dass sie helfen.

Agil sein können, auch bei der Arbeit, muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, wird aber zunächst von den meisten Menschen als fundamentalen Veränderungen wahrgenommen, weil in unseren üblichen Organisationen ein anderes Verständnis der Zusammenarbeit und ein anderes Menschenbild gewohnt und geübt sind. Der Umgang mit dem Gewohnten ist für uns Menschen weniger aufwändig, energiesparend und verspricht Sicherheit. Agile Organisationen sind dem Menschen viel näher, auch wenn sie mit den mittlerweile salonfähig gewordenen Arbeitsgewohnheiten brechen.

(Das verwendete Bild ist von Michael Nugent – Vielen Dank!)

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