Wahl des Vorgesetzten: Großartige Idee oder Desaster?

Stell dir vor, dein Team wählt seine neue Führungskraft. Das Team wählt sie nicht nur für die nächsten paar Jahre, sondern potenziell für immer. Kein festgelegter Wahlzyklus, sondern erstmal Führung auf Lebenszeit, bis vielleicht mal die Stimmung zu sehr kippt und eine Abwahl erfolgen kann. Ist das ein demokratisches Ideal, oder ein organisatorisches Desaster?

Seit einigen Jahren arbeite ich in einem Unternehmen, das Führung demokratisiert hat. Es hat die typischen Führungsaufgaben auf drei Rollen verteilt. Und die Menschen, die sich unter anderem um Personal-, Team- und Organisationsentwicklung kümmern, werden von ihren Teams gewählt.
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Die Teams wählen ihre Führungskraft selbst auf unbestimmte Zeit, erst mal so lange wie es das Team gibt, oder bis sich die gewählte Person entscheidet, sich bei einem neuen Team zu bewerben. Es kann auch vorkommen, dass es zwischen Team und Führungskraft zu so großen Konflikten kommt, dass sich das Team mit großer Mehrheit entscheidet, die Führungskraft abzuwählen und den Abwahl-Prozess startet. Soweit so, ähm, gut.

Persönliche Erfahrungen

Meine ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Prozess sind gut. Ich wurde von der ersten Einheit gewählt, bei der ich mich beworben hatte. Mein Gegenkandidat konnte die Entscheidung nachvollziehen (er arbeitete später bei uns im Team). Die Kolleg:innen innerhalb meiner Einheit, die sich für ihre Teams zur Wahl stellten, wurden bis auf eine Ausnahme alle immer direkt gewählt.

Trotzdem halte ich dieses Vorgehen in großen Organisationen für problematisch. Das leite ich von meinen Beobachtungen und Gesprächen in meinem erweiterten Umfeld des Unternehmens ab. Denn was passiert in der Realität? Gewählt wird in der Regel nicht die beste Führungskraft, sondern die angenehmste. Die, die nett ist. Die, die Konflikte vermeidet. Die, die niemandem wehtut. Die, die vor allem fördern, aber wenig fordern. Und weil es keine regelmäßigen Neuwahlen gibt, bleiben solche Führungskräfte lange im Amt, für immer oder bis entweder die Führungskraft selbst geht, das Team sich auflöst oder es zu sehr großen Konflikten kommt.

Das mag in einer idealistischen Vorstellung nach Partizipation und Fairness klingen. In der Praxis bedeutet es: Unternehmen bekommen Führungskräfte, die sich weniger nach dem Unternehmenserfolg richten, als danach, bei ihren Mitarbeitenden nicht in Ungnade zu fallen. Und das ist ein Rezept für Stillstand, Konfliktvermeidung und strategische Inkonsequenz.

Demokratie im Unternehmen?

Demokratie ist in Staaten eine großartige Sache. Sie schützt Bürgerrechte, sichert Machtkontrolle und sorgt für Beteiligung. Was aber bei den Überlegungen zur demokratischen Wahl von Führungskräften übersehen wird: Unternehmen sind keine Staaten. Was sind die Unterschiede?

Wahlen funktionieren in der Politik anders

  • Staaten existieren für das Gemeinwohl, Unternehmen für Profit. Politische Wahlen setzen auf Stabilität und Konsens. Unternehmen müssen dagegen flexibel und strategisch handeln mit dem Ziel, Kosten zu decken oder Gewinn zu erzielen.
  • In Demokratien gibt es Gewaltenteilung. Eine Regierung wird nicht nur gewählt, sondern auch durch eine unabhängige Justiz und eine Opposition kontrolliert. In Unternehmen gibt es diese Mechanismen nicht. Wer einmal gewählt ist, bleibt im Amt, bis es eskaliert.
  • In Ländern gibt es feste Wahlzyklen. In Unternehmen mit gewählten Führungskräften nicht. Die Amtszeit ist unbefristet, bis ein Team sich geschlossen gegen die Führung ausspricht. Das schafft eine gefährliche Trägheit.

Der Fluch der Beliebtheit

Wer in einem Unternehmen gewählt wird, bleibt so lange im Amt, bis das Team genug von der Person hat. Das führt zu einer klaren Verhaltenslogik. Die Nettesten gewinnen und das ist gefährlich.

  • Harte, aber notwendige Entscheidungen? Riskant. Wer Dinge durchsetzt, die wehtun (zum Beispiel Leistungsanforderungen, strategische Kurskorrekturen), riskiert, dass Unmut wächst und eine Abwahl droht.
  • Klare Führung? Lieber nicht. Führungskräfte, die klare Ansagen machen und Erwartungen setzen, polarisieren und das ist genau das, was man vermeiden will, wenn man sein Amt sichern möchte.
  • Konflikte? Besser aussitzen. Statt Unangenehmes aktiv anzusprechen, bleibt man lieber neutral, um ja niemanden gegen sich aufzubringen.

Unternehmen werden dann nicht von den fähigsten, sondern von den konfliktscheuesten Personen geführt.

Stell dir vor, dein Team muss sich zwischen zwei Kandidaten entscheiden. Der eine hat eine klare Vision, ist aber fordernd. Der andere ist freundlich, sympathisch und verteilt Lob, egal was passiert. Wer wird gewählt? Genau. Und wer wird erst abgesetzt, wenn es zu spät ist? Auch genau.

Gut gemeinte Argumente dafür

Es gibt immer wieder formulierte gute Gründe, die sich auch für mich erst nach der eigenen Erfahrung als nicht tragfähig oder zumindest kritisch dargestellt haben. Befürworter von Führungswahlen argumentieren oft,…

  1. Dass Wahlen die Akzeptanz und Motivation der Mitarbeiter erhöhen. Wer also die Vorgesetzte selbst wählt, wird sich stärker mit ihr identifizieren und sie eher unterstützen.
    • Akzeptanz ist nicht mit Effektivität gleichzusetzen. Eine beliebte Chefin kann trotzdem Entscheidungen treffen, die sich als schlecht herausstellen.
    • Gruppendynamische Verzerrungen setzen ein. Wer gewählt wird, genießt eine “Welpenschutz-Phase”, aber sobald erste unpopuläre Entscheidungen getroffen werden, kann sich das Team gegen die Vorgesetzte wenden und die Akzeptanz bröckelt schneller als gedacht.
    • Langfristige Unzufriedenheit steigt. Wenn Probleme entstehen, wird nicht das System hinterfragt, sondern die Person. Dann fängt das Spiel von vorne an: Neue Wahl, neue “sympathischere” Chefin, gleiche Probleme.
  2. Dass Mitarbeitende die beste Einschätzung haben, wer ihr Team führen sollte. Die Menschen, die mit der Führungskraft arbeiten, wüssten also am besten, wer die Rolle ausfüllen kann.
    • Führungskräfte brauchen nicht nur Sozialkompetenz, sondern auch strategische Weitsicht. Ein Team entscheidet oft aus der eigenen Perspektive heraus, aber nicht unbedingt danach, was für das Unternehmen insgesamt am besten ist.
    • Charisma wird überschätzt. Studien zeigen, dass Menschen charismatische Führungskräfte oft für kompetenter halten, als sie tatsächlich sind.
    • “Bekanntheitseffekt” schlägt Qualifikation. Wer in Teams beliebt ist, wird bevorzugt, selbst wenn objektiv geeignetere Kandidaten existieren.
  3. Dass Führungswahlen eine demokratische Unternehmenskultur fördern. Unternehmen würden also demokratischer, offener und transparenter.
    • Unternehmen sind keine Demokratien und sollten es auch nicht sein. Sie brauchen klare Entscheidungsstrukturen, um effizient zu bleiben.
    • Demokratie bedeutet nicht immer bessere Ergebnisse. Wenn kurzfristige Popularität die einzige Legitimation ist, leidet die Qualität der Führung.
    • Kollektive Verantwortung wird abgeschwächt. Teams können die Schuld für schlechte Entscheidungen auf die Führungskraft abwälzen, statt sich selbst in die Verantwortung zu nehmen.

Best Buddies, Populismus und Unsicherheit

Die Idee, Führungskräfte zu wählen, klingt demokratisch, führt aber dazu, dass nicht die besten, sondern die beliebtesten Personen im Amt bleiben. Unternehmen brauchen aber keine Best Buddies, sondern Menschen, die Konfilkte organisieren, Zusammenarbeit gestalten und Entscheidungen treffen können. Dazu gehört die aktive Übernahme von Verantwortung und auch die Fähigkeit, sich durchzusetzen.

Für gewählte Führungskräfte bedeutet das Wahlsystem Dauerstress. Ständige Angst, sich unbeliebt zu machen. Der Zwang, strategische Klarheit gegen diplomatische Weichspülerei einzutauschen. Wer sich einer Wahl unterwirft, ist mittelfristig weniger Führungskraft als Stimmungsthermometer und genau das verhindert, dass Unternehmen die Richtung ändern oder auch nur halten können.

Bevor du darüber nachdenkst, Führung per Wahl zu legitimieren, stell dir eine einfache Frage: Willst du eine stabile, strategische Führung, die Entscheidungen abhängig von Umfeld und Markt trifft, oder ein Management, das sich nach den (individuellen) Bedürfnissen der Mitarbeitenden richtet und immer den Weg des geringsten Widerstands sucht?

(Das Bild ist mit Chat GPT generiert.)

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Daniel Dubbel

IT Executive @ DB Systel GmbH | Ich begleite sowohl als Berater, als auch in Führungsrollen Unternehmen und Menschen, gestalte Organisationen, Strukturen, Kultur und Zusammenarbeit. 🤝 Neugierig? Dann lass uns sprechen.

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