Wenn ich auf unsere Organisationen und auf unser Miteinander blicke, ich frage mich oft, wie es so weit kommen konnte. Die landläufige Meinung scheint zu sein, dass Konflikte zu vermeiden sind. Sie seien eine Störung, ein Zeichen für Dysfunktion, ein Versagen im Streben nach Harmonie. Als wäre die Abwesenheit von Reibung das Ideal, die ultimative Stufe der evolutionären Entwicklung eines Teams.
Heutzutage irritiert mich das. Mittlerweile bin ich ausgebildeter Wirtschaftsmediator und habe gelernt und geübt, was es bedeutet, Konfliktparteien durch einen meist aufwändigen Prozess wieder zur Zusammenarbeit zu bewegen. Dabei habe ich auch gelernt, wie tief manche Konflikte sind und wie unverrückbar die Positionen, wie tief Verletzungen und wie wichtig eine konstruktive Zusammenarbeit auf professioneller Ebene bleibt.
Das Märchen vom Konsens
Wir sprechen viel von Konsens. Er wird manchmal als der goldene Gral der Zusammenarbeit gepriesen. Wenn wir uns nur alle einig wären, dann würde alles glattlaufen, so die unausgesprochene Annahme. Doch schauen wir genauer hin, müssen wir feststellen, dass dieser „Konsens“ vielmehr eine mühsam errungene Waffenruhe ist, ein Kompromiss, der niemanden wirklich zufriedenstellt, sondern lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner abbildet. Und wie oft wird unter dem Deckmantel des Konsenses die produktive Reibung schlichtweg abgewürgt?
Ich erinnere mich an unzählige Meetings, in denen das Ziel war, „sich zu einigen“. Besonders gerne bei einer Erarbeitung von Vision und Mission oder Zielen in Teams. Und mit jedem Schritt hin zu dieser Einigung wurde die anfängliche Energie, die Vielfalt der Perspektiven, das lebendige Ringen um die beste Lösung ein wenig mehr eingeebnet. Der Weg hatte den Nutzen des besseren gegenseitigen Kennenlernens. Das Ergebnis ist dann meistens sehr flach und wenig nutzbringend. Ist das wirklich der Weg zu Wachstum und Innovation? Oder eher der zu einer behäbigen Trägheit, in der das Neue keinen Raum mehr findet, weil es das wohlige „einer Meinung sein” stören könnte?
Vielleicht geht es im Kern darum, Konflikte anders zu betrachten. Zu erkennen, dass Konflikte keine Störung sind, sondern ein notwendiger Ausdruck von Lebendigkeit. Sie entstehen nicht, weil etwas falsch läuft, sondern weil Menschen unterschiedliche Erwartungen, Bedürfnisse und Ziele haben, die sie mit Herz und Energie vertreten und verteidigen. Die „Magie des Konflikts“ (Reinhard K. Sprenger) liegt nicht im Vermeiden, sondern im Begreifen und im Umgang mit dieser Spannung. Es geht darum, Differenzen in Erwartungen zu klären, sichtbar zu machen und zu erkennen, dass sie verhandelbar sind und nicht die einzige, unumstößliche Wahrheit.
Die Kunst des kooperativ Weitermachens
Was wäre, wenn unser Ziel nicht der vollständige Konsens wäre, sondern das kooperative Weitermachen? Eine Idee, die auch für mich neu ist und mich gerade als Führungskraft begeistert, weil sie ganz andere Möglichkeiten aufmacht. Es ist die Fähigkeit, nach und in einem Dissens, nach einer Reibung, nach einer Krise nicht harmonischen Konsens zu suchen oder getrennter Wege zu gehen, sondern sich wieder zusammen zu raufen und konstruktiv in Zusammenarbeit den nächsten Schritt zu gehen. Wie ein Ball, der auf den Boden prallt, aber nicht liegen bleibt, sondern wieder in Bewegung kommt. Gitta Peyn nennt es Pogofähigkeit. Es ist diese Kultur der Zusammenarbeit, die es erlaubt, nach einer hitzigen Diskussion um die beste Strategie gemeinsam den Kaffee zu holen und sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, ohne dass man sich völlig einig sein muss und gleichzeitig ohne, dass Groll zurückbleibt.
Das erfordert eine Haltung, die zwei Dinge zulässt. Zum einen die Offenheit für die Hitze des Moments, für die Emotionen, die ein Konflikt unweigerlich mit sich bringt, und gleichzeitig die systemische Distanz, die es erlaubt, das Geschehen von oben zu betrachten. Es ist die Fähigkeit, gesprächsbereit zu bleiben und den Konflikt auszuhalten, ohne ihn zu eskalieren oder zu ignorieren. Das bedeutet als Führungskraft, manchmal die Stille nach einer unbequemen Frage auszuhalten, anstatt sie schnell mit einer Antwort zu füllen, oder die Entscheidung zu treffen, nicht sofort Partei zu ergreifen, sondern beide Perspektiven wirklich zu hören.
Der Blick hinter den Konflikt
Für uns als Führungskräfte bedeutet dies eine entscheidende Verschiebung. Es geht weniger darum, Konflikte zu schlichten, sondern vielmehr darum, ihren konstruktiven Nutzen zu ermöglichen. Es ist die Aufgabe einen Rahmen zu schaffen, in dem diese notwendigen Reibungen stattfinden können, ohne dass sie destruktiv werden.
Wichtig ist dabei sich klar zu machen, dass Konflikte eine Eigendynamik entwickeln. Sie sind keine statischen Probleme, die man „lösen“ kann, sondern lebendige Phänomene, die uns in ihren Bann ziehen und die nur organisiert werden können. Eine Frage von Klaus Eidenschink dazu ist „Habe ich einen Konflikt, oder hat der Konflikt mich?“ Diese Frage verschiebt den Fokus von der externen „Konfliktlösung“ hin zur internen Regulationskompetenz. Es geht nicht mehr primär darum, den anderen zu ändern, sondern darum, wie ich selbst in der Konfrontation frei bleibe.
Als Führungskraft frage ich mich:
- Welche Strukturen oder Abläufe in unserem Team begünstigen eigentlich die Entstehung von Konflikten, und welche würden eine konstruktive Auseinandersetzung erleichtern?
- Bin ich selbst derjenige, der den Konsens herbeireden will, um die eigene Unsicherheit zu beruhigen? Oder bin ich bereit, die Unruhe des Konflikts auszuhalten?
- Wann muss ich einen Konflikt bewusst anzetteln oder schüren, um eine verkrustete Struktur aufzubrechen und eine notwendige Veränderung anzustoßen?
Führung als Widerspruchsverarbeitung
Reinhard K. Sprenger sieht die Führungskraft als einen „Konfliktparasiten“. Das klingt erst mal hart als Metapher. Bei näherem Hinsehen steckt hier aber viel drin. Sie bedeutet, dass Führung erst durch das Vorhandensein von Widersprüchen, von Ziel- und Wertekonflikten ihre Legitimation erhält. Ohne Konflikte bräuchte es keine Führung. Unsere eigentliche Aufgabe ist es daher nicht, die Konflikte zu beseitigen, sondern als „Widerspruchsverarbeiter“ zu fungieren, also Konflikte und die unterschiedlichen Sichten zu organisieren.
Dies ist eine klare Abkehr vom Ideal der Harmonie. Die Überlebensfähigkeit einer Organisation hängt nicht von ihrer Konfliktfreiheit ab, sondern von ihrer Fähigkeit, permanenten Nichtübereinstimmungen standzuhalten und sie in eine konstruktive Kraft zu verändern. Führungskräfte, die das verstanden haben, hören auf, sich unentwegt als Schlichter oder Harmonie-Wächter zu sehen. Stattdessen werden sie zu Architekten eines Systems, das Widersprüche aushält und größtmöglichen Nutzen daraus ziehen.
Wir müssen uns bewusst sein, dass Konflikte nicht nur abstoßen, sondern auch anziehen. Gäbe es keinen Willen zur Zusammenarbeit, stünde an der Stelle der Konflikte Gleichgültigkeit. In jedem Streit steckt bereits ein Funke an Gemeinsamkeit, zum Beispiel die Sorge um die gleiche Sache, das Interesse an der gleichen Zukunft. Wenn wir uns darauf besinnen, können wir einen Konflikt als eine Ergänzung erleben, die vielleicht nicht angenehm, aber wertvoll ist. Wer streitet, zeigt nicht nur seine Position, sondern auch seine Werte, seine Ängste und seine Hoffnung. Konflikte sind somit eine einzigartige Gelegenheit, die Perspektive des Gegenübers nicht nur zu verstehen, sondern die eigene Welt um diese neue Sichtweise zu ergänzen.
Letztendlich geht es nicht darum, Konflikte zu lieben oder zu suchen. Es spricht auch nichts gegen harmonische Phasen. Es geht darum, Konflikte als das zu erkennen, was sie sind. Eine unverzichtbare Dynamik in komplexen, sich ständig wandelnden Systemen. Und genau darum geht es gar nicht anders, als die Fähigkeit zu entwickeln, sich mit und in Konflikten zurecht zu finden. Für ein kooperatives Weitermachen, das vielleicht nicht immer harmonisch ist, aber dafür umso lebendiger und produktiver.
Buchempfehlungen
- Gitta Peyn: Pogofähigkeit
- Reinhard K. Sprenger: Die Magie des Konflikts
- Klaus Eidenschink: Die Kunst des Konflikts
(Das Bild ist mit Google Gemini generiert.)