Sinnblind. Warum dein Idealismus verpufft (2 von 6)

In einer Arbeitswelt, in der New Work und Agilität als leuchtende Versprechen inszeniert werden, als Mittel zu mehr Freiheit, Selbstverwirklichung und innovativer Zusammenarbeit, scheint es, als könnte Arbeit mehr sein als nur ein Mittel zum Broterwerb. Gleichzeitig wird dieser Idealismus regelmäßig von Organisationen abgelehnt, die sich in starren, messbaren Prozessen bewegen.

Während Visionen von flachen Hierarchien und sinnstiftender Führung propagiert werden, bleibt der tief empfundene Anspruch, Arbeit wirklich bedeutsam zu machen, meist auf der Strecke. Diese Diskrepanz zwischen großen Idealen und kalter Systemlogik bildet den Kern einer Spannung, die in diesem Artikel untersucht wird und zeigt, warum das Streben nach sinnstiftender Arbeit in der Praxis oft verpufft.
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Überlebens- statt Sinnsuchmaschinen

Organisationen erfüllen in erster Linie ihre eigene Systemlogik. Nach Niklas Luhmann sind sie sich selbst erhaltende Systeme, die sich durch Kommunikation reproduzieren. Dabei werden sämtliche Informationen anhand fester binärer Codes gefiltert. Diese Codes sind beispielsweise in der Wirtschaft „Zahlung/Nichtzahlung“, in Gerichten „Recht/Unrecht“ oder in Unternehmen „Beitrag/Nichtbeitrag“ und bestimmen, was in den jeweiligen Systemen als relevant betrachtet wird.

Obwohl in Banken und Gerichten natürlich Menschen Entscheidungen treffen, überwiegt die standardisierte Prozesslogik. Sie stellt einzelne, subjektive Bewertungen weitgehend zurück. Die Organisation erfasst somit nur das, was in ihren internen Codes abgebildet werden kann. Individuelle Sinnsuche taucht darin nicht als messbare Größe auf. Das bedeutet auch, dass all das, was Menschen als bedeutsam empfinden, oft keinerlei Einfluss auf den operativen Ablauf hat. Nicht, weil es weniger wichtig wäre, sondern weil es nicht anschlussfähig gemacht werden kann.

Menschen suchen Sinn, Systeme können ihn nicht erzeugen

Menschen haben als fühlende und denkende Wesen das Bedürfnis, ihrem Handeln einen tieferen Sinn zu geben. Das subjektive Erleben von Bedeutsamkeit und Identität spielt eine zentrale Rolle dabei, wie Arbeit wahrgenommen wird. Gleichzeitig ist in modernen Gesellschaften ein tiefgreifender Wandel zu beobachten:

  • Individualisierung: Traditionelle Normen verlieren an Bindungskraft, und es wird zunehmend nach selbstbestimmten Lebensentwürfen gestrebt.
  • Selbstoptimierung: In einer Phase des materiellen Überflusses rückt der Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung in den Mittelpunkt. Nicht selten wird dieses Phänomen als Luxusproblem bezeichnet.
  • Sinnsuche in der Arbeit: Arbeit wird heute nicht mehr nur als Mittel zur Existenzsicherung verstanden, sondern als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung.

Diese Entwicklungen führen zu einem tiefen Spannungsfeld. Während Individuen vermehrt nach Bedeutung streben, arbeitet die Organisation ausschließlich nach dem Prinzip der Anschlussfähigkeit. Ideale und subjektive Sinnempfindungen lassen sich nicht ohne Weiteres in das starre Raster operativer Prozesse übertragen. So entsteht ein dauerhafter Konflikt zwischen dem inneren Erleben und der messbaren Realität.

Die große Sinn-Verwechslung

In den letzten Jahren haben Organisationen begonnen, den Begriff „Purpose“ in ihre Kommunikation zu integrieren. Vision- und Mission-Statements, sogenannter Purpose Driven Leadership und ähnliche Konzepte erscheinen zunächst inspirierend und als Antwort auf den Wunsch nach mehr Sinn in der Arbeit, einem Anspruch, der in einer Welt, in der immer mehr Menschen individuelle Bedeutung suchen, noch präsenter ist. Der Drang, Arbeit nicht nur als reines Mittel zum Broterwerb, sondern als Ort der Selbstverwirklichung zu erleben, wächst kontinuierlich. Dieser Trend, der unter anderem durch den zunehmenden gesellschaftlichen Individualisierungs- und Selbstoptimierungsdruck geprägt ist, verstärkt das Spannungsfeld zwischen den subjektiven Idealvorstellungen und der kalten, quantifizierenden Logik von Organisationen.

Aber sobald der ideelle Anspruch operationalisiert werden soll, geschieht etwas Entscheidendes: Die Organisation „übersetzt“ den Sinn in ihre eigene Sprache, und das sind Kennzahlen und messbare Vorgaben. Aus der Frage „Warum bin ich hier?“ wird schnell „Wie steigern wir das Engagement?“, und das erlebbare Gefühl von Bedeutsamkeit verwandelt sich in eine weitere, kalkulierte Maßnahme im System.

Während immer mehr Menschen in der modernen Arbeitswelt einen tief verwurzelten Wunsch nach individueller Sinnsuche und Selbstverwirklichung entwickeln, bleibt das System starr in seinen binären Codes verhaftet. Es misst nur Effizienz, Zahlen und Wiederholbarkeit. Das Ergebnis ist, dass der ursprüngliche Idealismus, der im Innersten der Menschen als richtiger Kompass empfunden wird, in eine kalkulierte, austauschbare Größe degradiert wird. Die Diskrepanz zwischen dem individuell erlebten Sinn und der operationalen Realität wird damit noch verstärkt und führt zu einem fundamentalen Konflikt, der schwer aufzulösen ist.

Strategien, mit denen Systeme Idealismus neutralisieren

Wenn Idealismus in den Strukturen von Organisationen auftaucht, folgen fast automatisch drei Reaktionen des Systems:

  • Entkopplung: Idealistische Visionen werden zwar präsentiert, doch in der täglichen Praxis erfolgt die Umsetzung strikt über operative Vorgaben. Auf Webseiten und in Meetings wird von einer „gestalteten Zukunft der Arbeit“ gesprochen, während in realen Entscheidungen ausschließlich auf Kennzahlen geachtet wird. Diese symbolische Kommunikation bleibt dann isoliert von wirklichen Entscheidungen.
  • Transformationstheater: Innovative Workshops und kreative Formate bieten vorübergehend Raum für visionäre Ideen. Doch sobald es auf die Umsetzung ankommt, werden diese Impulse als zu abstrakt abgetan und in langfristige, oft wenig flexible Prozesse zurückgeführt. Die Bühne wird geboten, aber echte Handlungsmacht wird nicht gegeben.
  • Psychologische Immunabwehr: Kritische, irritierende Fragen werden routinemäßig mit Standardantworten abgefedert, zum Beispiel mit Aussagen wie „Das passt bei uns nicht“, „unsere Menschen sind dafür noch nicht reif“ oder „Unsere Kapazitäten reichen dafür nicht aus“. Auf diese Weise schützt sich das System vor radikalen Veränderungen und bewahrt den Status quo.

Emotionale Folgen des Konflikts

Die Konfrontation mit diesem systemischen Konflikt führt bei Menschen unweigerlich zu deutlichen emotionalen Reaktionen.

  • Frustration: Es wird beobachtet, dass idealistische Ansprüche immer wieder durch Zahlen, Kennzahlen und formelle Prozesse ersetzt werden. Das kann zu einem tiefen Frust führen, weil eigene Ideen, Bedürfnisse und das Engagement nicht anerkannt wird.
  • Rückzug: Der emotionale Preis, der durch den ständigen Kontrast zwischen innerer Bedeutsamkeit und äußerer Messbarkeit entsteht, führt dazu, dass sich viele Menschen zurückziehen und letztlich den Glauben an die transformative Kraft ihrer idealisierten Ideen verlieren.
  • Zynismus und Identitätsverlust: Wird der vertretene Sinn dauerhaft nicht gewürdigt, droht ein Verlust der persönlichen Identität. Das führt dazu, dass Individuen sich in stereotypen Rollen wiederfinden, beispielsweise als „Agile-, New Work- oder Purpose-Evangelist:innen“, die primär leere Buzzwords wiedergeben, ohne tatsächlichen Wandel zu bewirken. Langfristig können solche Prozesse zu Burnout und innerer Kündigung führen.

Wege, um den Konflikt zu überleben

Auch wenn sich der Konflikt zwischen Idealismus und Systemlogik nicht vollständig auflösen lässt, gibt es Ansätze, um den damit verbundenen Druck zu mildern und systemisch klug zu handeln. Es geht darum, trotz starrem System, Räume zu schaffen, in denen auch subjektive Bedeutungen ihren Platz haben. Drei wesentliche Ansätze sind:

  • Räume schaffen: Auch wenn Organisationen dem binären Code verpflichtet bleiben, können spezielle Formate etabliert werden, in denen andere Logiken gelten, in denen neben Zahlen und Prozessen auch individuelle Bedeutungen Raum finden. Zum Beispiel:
    • Peer-Formate, in denen Kolleg:innen offen über persönliche Werte und Sinnmomente sprechen.
    • Retrospektiven, in denen neben operativen Fehlern auch Erlebnisse und Empfindungen reflektiert werden.
    • Feedbackrunden, in denen der persönliche Mehrwert als ebenso wichtig wie die Leistung betrachtet wird.
  • Sinn nicht erklären, sondern ermöglichen: Der subjektiv erlebte Sinn lässt sich nicht vorschreiben; er muss entstehen. Statt Menschen mit festen Definitionen (zum Beispiel von New Work oder Agilität) zu belehren, sollte in offenen Fragen nach dem bedeutsamen Moment gefragt werden. Solche Fragen schaffen Resonanzräume, in denen individuelle Sinn-Narrative wachsen können, ohne sie in starre Kennzahlen zu pressen.
    • „Wann wurde zuletzt ein Moment erlebt, der als wirklich erfüllend empfunden wurde?“
    • „Was müsste verändert werden, damit sich die Arbeit als sinnvoller anfühlt?“
  • Systemische Naivität kultivieren: Es wird immer wichtiger, beständig bestehende Annahmen zu hinterfragen, ohne zynisch oder dogmatisch zu werden. Humorvoll und offen können so auch Unsicherheiten thematisiert werden, die als Ausgangspunkt für innovative Ideen dienen. Die Bereitschaft, Fragen zu stellen und sich auf das Unerwartete einzulassen, ist ein Schlüssel, um trotz starrem System sichtbar zu machen, was fehlt.

Konkrete Möglichkeiten

Der Konflikt zwischen dem idealistischen Anspruch und der operativen Systemlogik ist nicht lösbar. Er bleibt ein inhärenter Bestandteil moderner Organisationen. Unterstützungsfunktionen können jedoch helfen, den Druck abzufedern und die Kluft zwischen subjektiv erlebtem Sinn und messbarer Realität zumindest teilweise zu überbrücken.

Führungskräfte

  • Für einen guten Umgang mit Erwartungen sollte darauf hingewiesen werden, dass Organisationen primär als Systeme funktionieren, in denen Effizienz und Anschlussfähigkeit oberste Priorität haben. Gleichzeitig sollte aber Raum für individuelle Sinn-Narrative gelassen werden. Hierfür sollten offene, ehrliche Dialoge gefördert werden, in denen unterschiedliche Vorstellungen zum Beispiel von individueller Bedeutsamkeit Platz finden.
  • Offenheit für eigene Unsicherheiten und das Eingeständnis, dass Veränderung stets ambivalent ist, ermöglichen es einem selbst und allen anderen, den persönlichen Idealismus als dynamischen Prozess zu verstehen.
  • Durch die Schaffung von Reflexionsräumen, in denen nicht nur Leistung, sondern auch persönliche Bedeutsamkeit thematisiert wird, können Führungskräfte einen Ausgleich schaffen.

Organisationsentwicklung

  • Es ist hilfreich, Formate zu entwickeln, die bewusst Widersprüche und Irritationen zulassen. Dies verhindert, dass alle Ideale sofort angeglichen werden und fördert einen Raum für alternative Perspektiven.
  • Lernprozesse, die über reine Prozessoptimierung hinausgehen und tiefer in die subjektive Bedeutsamkeit eintauchen, sollten gefördert werden.
  • Eine Kommunikationskultur, die den Austausch über Ideale und individuelle Sinnempfindungen unterstützt, hilft, die Diskrepanz zwischen Systemlogik und persönlichem Erleben zu verringern.

HR-Bereich

  • „Purpose“ darf nicht überbetont, aber auch nicht zur reinen Kennzahl verkommen, sondern sollte als Möglichkeit verstanden werden, die individuellen Sinn-Narrative authentisch zu fördern.
  • Führungskräfte und Mitarbeitende sollten ermutigt werden, ihre persönlichen Sichtweisen und Interpretationen selbst zu entwickeln und offen zu teilen, ohne dass sie sofort in Zahlen oder Kennzahlen umgerechnet werden müssen.
  • Kontinuierliche Feedbackprozesse, in denen auch unerklärte Gefühle und persönliche Werte thematisiert werden, können dazu beitragen, das emotionale Wohlbefinden zu stabilisieren.

Warum und wie Druck wichtig ist

Es wird oft behauptet, dass ohne Schmerz keine Veränderung möglich ist. „No Pain, No Change.“ In vielen Fällen entsteht Veränderung tatsächlich erst dann, wenn der Druck so groß wird, dass der bisherige Zustand nicht mehr tragbar ist. Dieser Druck, ganz egal ob extern oder intern entstanden, kann als Katalysator dienen, wenn er richtig kanalisiert wird. Dabei zeigen sich zwei Aspekte:

  • Druck allein führt häufig zu reaktiven, kurzlebigen Maßnahmen. Solche Initiativen sind oft rein reaktiv und resultieren in Programmen, die idealistischen Ansprüchen wenig Raum geben.
  • Die Kunst besteht darin, den empfundenen Druck in produktive Irritation zu transformieren. Das gelingt, wenn dieser Druck in anschlussfähige, reflektierte Räume übersetzt wird, in denen konkrete, tiefgehende Fragen gestellt werden:
    • „Welche bestehenden Vorgehensweisen verursachen wirkliche Belastungen und wie könnten sie verbessert werden?“
    • „Wie kann der empfundenen und durch Druck entstandene Notwendigkeit eine nachhaltige, konstruktive Lösung hinzugefügt werden?“

Entscheidend wird die Verbindung von Ideal und konkretem Problem. Nachhaltiger Wandel entsteht erst, wenn idealistische Vorstellungen mit einem realen und druckbasierten Umbruch verknüpft werden. Ohne diesen Anstoß verpufft reiner Idealismus als leere Vision, die schnell wieder abgestoßen wird. Oder anders gesagt: Idealisierte Ideen wie New Work oder Agilität müssen konkrete Antworten auf bestehenden Druck bieten, um nachhaltig integriert zu werden.

In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen in Richtung Selbstoptimierung und individueller Sinnsuche streben, entsteht ein Spannungsfeld zwischen den hohen Erwartungen an die Arbeit und den starren, messbaren Kriterien, die Organisationen beherrschen. In der Folge entfalten Ideale nur dann ihre Wirkung , wenn sich der bestehende Zustand als nicht mehr tragbar erweist – und dieser Druck muss in produktive, reflektierende Räume übersetzt werden.

Sinn entsteht im Subjekt und durch Anschlussfähigkeit

Zusammengefasst kann man also sagen, dass Organisationen mit binären Codes arbeiten, zum Beispiel mit Zahlung/Nichtzahlung, Recht/Unrecht, Beitrag/Nichtbeitrag. Sie zielen darauf ab, Effizienz und Selbsterhalt zu garantieren. Diese Logik ist darauf ausgelegt, Entscheidungen schnell, objektiv und wiederholbar zu gestalten. Das subjektiv erlebte „Warum“ des Einzelnen wird dabei konsequent außen vor gelassen.

Sinn entsteht im Inneren der Menschen durch persönliche Deutung, emotionale Resonanz und den Aufbau von Bedeutung, die nicht in Kennzahlen festgehalten werden kann. Das führt zu einem fundamentalen Konflikt.

Der Idealismus, der individuelle Sinnsuche antreibt, steht der Operationalität von Organisationen gegenüber, die ausschließlich nach Anschlussfähigkeit und Messbarkeit arbeiten. Ideale verpuffen, wenn sie nicht an konkrete, aus Druck entstehende Probleme gekoppelt werden. Nachhaltige Veränderungen werden meist erst dann erreicht, wenn der Status Quo nicht mehr haltbar ist und damit den Systemdruck erhöht. Dieser Druck muss in offene, reflexive Räume transformiert werden.

Es gilt daher, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einerseits dem individuellen Anspruch auf Sinn Raum geben und andererseits realitätsnah in den systemischen Kontext eingebettet werden. So kann der systemische Druck, der einen Wandel erzwingt, in produktive Irritationen überführt werden, die zu nachhaltigen und authentischen Veränderungen führen.

Ausblick

Dieser Artikel hat gezeigt, dass Organisationen den individuellen Sinn ihrer Mitglieder nicht erzeugen können und damit auch wenig Platz für Idealismus bietet. Sie können Räume schaffen, in denen der Sinn sichtbar und damit indirekt wirksam wird. Doch was passiert, wenn gerade die Menschen mit dem größten Veränderungsanspruch selbst zum Engpass werden? Wenn Kontrolle, Angst und Selbstbild dem Wandel im Weg stehen?

Im nächsten Teil wird es persönlicher. Wir werfen einen Blick auf die Innenwelt von Führungskräften und auf die stille, oft verdrängte Erfahrung der inneren Kündigung in der Führungsetage.

(Das Bild ist mit Chat GPT generiert.)

About the author

Daniel Dubbel
Daniel Dubbel

IT Executive @ DB Systel GmbH | Ich begleite sowohl als Berater, als auch in Führungsrollen Unternehmen und Menschen, gestalte Organisationen, Strukturen, Kultur und Zusammenarbeit. 🤝 Neugierig? Dann lass uns sprechen.

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