Baeckerei-Board

Agilität im Handwerk

Ein Bäcker organisiert sich agil – klingt komisch, ist aber so. Die erste Reaktion zu Agilität im Handwerk ist eher Unverständnis. Irgendwie cool, aber wirklich sinnvoll möglich? Das Spannende im Handwerk ist, dass die Ausrichtung der Produkte an den Bedürfnissen der Kunden unmittelbar existenzielle Auswirkungen hat. Ein Bäcker, dem das Gschmäckle seiner Kunden egal ist, hat auf lange Sicht ein Problem. Regionale Gebräuche und die Tradition des Handwerks spielen hier eine wichtige Rolle. 

Einem erfolgreichen Handwerker muss man in der Regel nichts über die Nutzerzentrierung erzählen. Welche Herausforderungen hat ein moderner Handwerksbäcker dann? Wozu und wie können agile Arbeitsweisen helfen, eine stabile und flexible Organisation zu etablieren?

Hinweis: Der Original-Artikel ist bereits im Blog von t2informatik erschienen.

Die Situation der Handwerksbäcker

Der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks e.V. hat es 2015 geschafft, dass die deutsche Brotkultur zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO erhoben wurde. Aktuell gibt es in Deutschland noch rund 11.300 Bäckereibetriebe, doch die Zahl sinkt stetig. Damit ist das Brotland Deutschland von der Anzahl der Betriebe auf Platz 2 hinter Frankreich gerutscht. Zwar steigt die Zahl der Filialen, doch gerade die kleineren Handwerksbetriebe müssen schließen. Auch durch Backstationen steigt der Druck auf die Handwerksbäcker. Dabei haben die in Supermärkten boomenden und mit industriell gefertigter Ware aus Rohstoffen vom Weltmarkt bestückten Regale nichts mit einem sorgfältig gefertigten Handwerksprodukt zu tun. Zusätzlich haben die oft familiengeführten Handwerksbetriebe die schwierige Herausforderung der Unternehmensnachfolge. In diesem unsicheren Umfeld befinden sich aktuell zahlreiche deutsch Bäckereibetriebe.

Was in großen Konzernen, IT Unternehmen und Agenturen häufig schon selbstverständlich ist, ist bei mittelständischen Handwerksbetrieben noch wenig angekommen: die Digitalisierung. Selbst finanzielle Unterstützung vom Bund für die Digitalisierung des Handwerks wird spärlich abgerufen. Dabei eignen sich sowohl Digitalisierung, als auch neue und agile Arbeitsweisen hervorragend für das Handwerk.

Es geht auch anders

Eine mittelständische Familienbäckerei aus Thüringen ist aufgebrochen. Die Bäckerei Bergmann mit knapp 50 Filialen ist seit über anderthalb Jahren auf dem Weg, die Vorteile agiler Arbeitsweisen für die Organisation zu nutzen und für sich weiterzuentwickeln. Angefangen hat es mit dem Wunsch von Matthias Bergmann, mehr Innovation und unternehmerisches Handeln im Führungsbereich der Vertriebsorganisation der Bäckerei zu etablieren. Dabei war dem Junior-Chef zu Beginn der Reise klar, dass es sich um einen längeren Prozess handeln wird. 

Die Herausforderung

“Wir wussten, dass wir ganz weit vorn sind, was unsere Fähigkeiten und Prozesse betrifft, wenn es ums Backen geht – aber in der Organisation unserer Arbeit stehen wir total am Anfang.”

Matthias Bergmann

Nach einigen intensiven und erkenntnisreichen Workshops rund um Potenzialentfaltung, Kommunikation und sanfte Einführungen agiler Arbeitsweisen war schnell klar, dass die Potenziale für Innovation schon längst tief im Unternehmen verankert sind. Größere Herausforderung war die chaotische Struktur, die durch das Wachstum von 2005-2019 auf über 45 Filialen gewachsen, aber auch in kleineren Betrieben des Bäckereihandwerks üblich ist.

Eine Filiale hat mehrere MitarbeiterInnen und je nach Anzahl der Mitarbeiter eine Filialleitung. Mehrere Filialen werden geografisch geteilt durch Vertriebsleiter organisiert. Darüber gibt es den Vertriebschef. Je nach Größe der Bäckerei ist zwischen dem Vertriebschef und den Vertriebsleitern noch eine zusätzliche Ebene. Themen werden also personengebunden linear diese Hierarchie hoch und wieder nach unten getragen. Eine Verbindung von dieser Vertriebsorganisation zur Backstube (dort entstehen tatsächlich die Produkte) oder der Logistik gibt es über die Führungspersönlichkeiten. Dringende Fälle, gerade in Schicht-Planungen oder besondere Umstände überspringen in der Kommunikation auch gern mal eine Stufe (bzw. haben manche Regeln auch nur manchmal ihre Gültigkeit). Was konnte man tun?

Wirksam werden

Die Befähigung der Gruppe von Führungskräften, sich als ein gemeinsames Team zu verstehen und entsprechend zu handeln, zeigte größte Wirkung. In diesem Team wurden in gemeinsamen regelmäßigen Terminen mit klarer Struktur die gemeinsamen Projekte besprochen. Die Aufgaben wurden eigeninitiativ nach jeweiligen Stärken übernommen. Das hieraus resultierende bessere Verständnis für die Fähigkeiten der anderen, ein kollegiales Unterstützen auf Basis der jeweiligen Stärken, eine größere Bereitschaft, auch Aufgaben im Gebiet der Kollegen zu übernehmen, ein größerer Wissensaustausch im gesamten Filialgebiet und noch ganz viel mehr hat sich die Führungsmannschaft des Vertriebs im Laufe eines Jahres durch Agile Coaches unterstützt erarbeitet.

Bergmann im Workshop bei YNEO
Vertrieb der Bäckerei Bergmann im Workshop bei YNEO

Der Nutzen dieser neuen, transparenten und über Meetings und ein Aufgabenboard organisierten Zusammenarbeit musste sich einige Zeit später auch wirtschaftlich unter Beweis stellen.

Der Beweis

Die echte Feuertaufe für diese neue Arbeitsorganisation war das Backstubenfest, einer der wichtigsten Tage im Jahr der Bäckerei Bergmann. Ein Tag der offenen Tür, an dem die Bäckerei sich selbst mit der gesamten bio-regionalen Wertschöpfung zu einem Hoffest ihren Kunden präsentiert. An diesem Tag wird das ca. 500 Einwohner große Dorf und die ansässige Bäckerei jährlichen zur kulinarisch-touristischen Attraktion für über 4000 Menschen aus der Region. Die Vorbereitung dieses Tages war immer ein außerordentlicher Kraftakt für das gesamte Unternehmen. Durch die neue selbstorganisierte Struktur, Transparenz und agile Arbeitsweise konnte das gesamte Bäckerei Team die Veranstaltung 2019 völlig stressfrei organisieren. Das sonst übliche und nervenaufreibende Micromanagement wurde vermieden. Im Detail bedeutet das: Schichtpläne und Aufbauarbeiten waren mehr als einen Tag im Voraus gemacht, das Programm hatte mehr Punkte als in allen Jahren davor, die Gäste blieben im Schnitt um eine Stunde länger, ein neu eingeführter Stand für Bewerbungen konnte über 100 Gespräche und führen und sich über überdurchschnittlich viele Bewerbungen freuen. Bei ungefähr gleichbleibender Gästeanzahl zum Vorjahr stieg der Umsatz an diesem Tag um knapp 25%.

Und warum ist dieser Tag so wichtig? Die Bäckerei nutzt ihn seit Jahren, um Innovationen im Produktbereich und bei ihren Prozessen zu testen. Wenn eine Idee den Ansturm an diesem Tag stand hält, dann hat sie das Potenzial für einen positiven Beitrag für die Zukunft der gesamten Bäckerei, der Region und allen Kunden. Und die Einführung agiler Arbeitsweisen hat der Bäckerei geholfen, erfolgreicher und innovativer aufzutreten, am Einfachsten abzulesen und an Zahlen zu belegen durch das besonders erfolgreiche Backstubenfest 2019.

Matthias Bergmann und Sebastian Daume

Matthias Bergmann (links)
Sebastian Daume (rechts)

Sebastian Daume
(YNEO, Co-Autor des Beitrags):

Wir lieben Bäcker und mögen es, wenn Menschen glücklich sind bei dem was sie tun, Sinn darin sehen und ihren Beitrag leisten wollen.

Hinweis zum Titelbild des Artikels: Es handelt sich um ein Original-Foto des Boards, mit dem der Vertrieb der Bäckerei seine Arbeit organisiert. Mehr Bilder von der Arbeit mit der Bäckerei Bergmann sieht man hier.

Schreibe deinen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert