Führungskräfte erleben in ihrer Rolle zunehmend ein paradoxes Spannungsfeld. Sie stehen vor großen Erwartungen aus der Organisation und können sie gleichzeitig immer weniger erfüllen. Während Organisationen an der Oberfläche New Work oder Agilität einführen oder ausrollen, bleibt die darunterliegende Logik des Systems der Organisation in der Regel unverändert. Hier geht es weiterhin um Effizienz, Kontrolle, Reproduzierbarkeit.
Zwischen Selbstoptimierung und Systemerhalt
Führung ist ein sozialer Prozess. Daraus leiten sich für Führungsrollen Aufgaben ab. Dabei wird Führung nicht selten als Personalisierung eines Ideals gehandelt. Dann sind Führungskräfte psychologisch reif, systemisch geschult, emotional intelligent, dienend, selbstreflektierend, empowernd. Nicht gesehen werden die operativen Zwänge, an die alles jederzeit anschlussfähig bleiben muss. Die Idealbilder sind genau so zahlreich wie widersprüchlich. Organisationen fordern zunehmend Führungskräfte, die gleichzeitig transformativ und stabilisierend agieren, Sinn ermöglichen und Ergebnisse garantieren, emotional präsent und doch rational steuernd sind. Was wie ein idealistisches Anforderungsprofil wirkt, wird im Versuch der Umsetzung zur dauerhaften Überforderung, weil dieses Wechselspiel auf Dauer kaum erfüllbar ist, schon gar nicht gleichzeitig.
Die Unsichtbarkeit systemischer Paradoxien
Das Grundproblem dabei ist, dass Führungsrollen ihre Aufgaben nicht im luftleeren Raum ausführen. Sie agieren innerhalb eines Systems, das seine eigene Reproduktion und Stabilität sichert, in denen Führungsrollen sogar ein meist stabilisierendes Strukturmerkmal sind. Entscheidungen, Kommunikationsmuster, Zielsysteme, alles ist auf Anschlussfähigkeit ausgelegt.
Das bedeutet, dass jede Abweichung von der Systemlogik (eine solche Abweichung könnte für viele Systeme beispielsweise ein Steuern ohne Auslastungs- oder Deckungsbeitrags-KPI sein) vom System entweder neutralisiert oder als Störung abgelehnt wird. Führungskräfte, die echten Wandel initiieren wollen, geraten damit automatisch in einen Loyalitätskonflikt zwischen Management, also „dem System entsprechen“ und Führung, also „sinnvoller Entwicklung und Veränderung Raum geben“.
Kontrolle als kulturelle Übersprungshandlung
Wenn Organisationen sich als „agil“ bezeichnen, aber weiter auf bestehende Elemente der Steuerbarkeit setzen, entsteht ein großer Widerspruch, der oft bei den Führungsrollen landet. Sie spüren die Unstimmigkeit und haben selten die strukturellen Mittel, um sie aufzulösen. Das mündet im Rückgriff auf das, was in der bestehenden Systemlogik bisher funktioniert: Kontrolle. Reportings, Abstimmungen, Governance-Formate, große Lenkungskreise, Performance-Indikatoren. Kontrolle wird so zur letzten Möglichkeit und Lösung, zum Ausweg aus diesem Widerspruch. Das geschieht nicht aus Böswilligkeit, sondern eher aus Notwehr. In komplexen, unsicheren Situationen erzeugt Kontrolle immerhin die Illusion von Halt, Stabilität und Sicherheit.
Die Illusion der neutralen Führungskraft
Führung wird oft als eine Frage der richtigen Techniken oder des Charakters einzelner Menschen verstanden. Dann geht es um reflektieren, kommunizieren, fördern. Und schon scheint der ideale Führungsstil erreicht. Doch Führung ist nie neutral. Jede Entscheidung, jede Priorität, jede Kommunikation spiegelt persönliche Haltungen, Perspektiven und unbewusste Muster wider.
Der Ruf nach „neutraler“ Führung übersieht, dass Führung immer selektiv ist. Sie hebt bestimmte Aspekte hervor, blendet andere aus und lenkt damit die Aufmerksamkeit. Das ist nicht nur nicht vermeidbar, sondern ganz im Sinne der Organisation eine der Aufgaben. Und gleichzeitig entstehen gerade darin unweigerlich Spannungen. Nicht, weil jemand „falsch“ führt, sondern weil Führung immer auch schützt, bewahrt und bewertet. Diese Spannungen lassen sich nicht durch persönliche Optimierung auflösen, sondern nur durch ein kollektives Lösen von unrealistischen Idealbildern. Die eigentliche Frage ist nicht: „Wie werde ich zur perfekten Führungskraft?“, sondern: „Was halte ich gerade durch mein Führungsverhalten aufrecht und wovor könnte ich mich (oder andere) dadurch unbewusst schützen?“
Organisationale Angst vor echter Selbstorganisation
Viele Organisationen sprechen von Empowerment. Oft meinen sie damit nur Steuerung, ohne sichtbaren Widerstand. Echte Selbstorganisation aber würde bedeuten, Macht abzugeben und nicht nur Aufgaben. Davor schrecken nicht nur Menschen, sondern das System selbst zurück. Es fürchtet den Verlust von Steuerbarkeit und Kontrolle. Also wird der Begriff „Selbstorganisation“ ausgehöhlt. Teams dürfen Entscheidungen treffen, aber nur im Rahmen fester Vorgaben. Sie dürfen gestalten, aber nur entlang vordefinierter eng gesteckter kontrollierbarer Ziele.
Der eigentliche Widerspruch zeigt sich, wenn Teams diese Ziele nicht erreichen. Häufig wird dann nicht das Team selbst in die Verantwortung genommen, sondern die Führungskraft, die ihnen überhaupt den Freiraum gegeben hat. Die Botschaft ist klar: Freiheit ja, aber nur solange sie keine Unsicherheit erzeugt.
Führungskräfte geraten so in einen unauflösbaren Rollenkonflikt. Sie sollen loslassen, aber zugleich verantwortlich bleiben. Sie sollen Selbstorganisation ermöglichen in einem System, das im Zweifel doch Hierarchie und Kontrolle erwartet. Wahre Selbstorganisation bleibt so eine gut gemeinte Idee, die im System an der Angst vor Kontrollverlust scheitert.
Die systemische Funktion von Führung
Führung hat in Organisationen eine strukturelle Funktion. Sie hält Ambivalenz aus, organisiert Entscheidungen und sichert Anschluss an Erwartungen. Genau das macht Menschen in Führungsrollen zur Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit dem Status quo, für die Hoffnung auf Veränderung, für die Frustration über Ambiguität.
Wer führt, sitzt in einem Dilemma. Die Personen müssen Erwartungen managen, die nicht erfüllbar sind und gleichzeitig orientieren, Richtung geben, Sinn vermitteln und als Sicherheit funktionieren. Das ist nicht nur anstrengend, sondern widersprüchlich und nicht vollständig auflösbar.
Drei systemisch bedingte Irrtümer über Führung
Führung ist steuerbar. Organisationen haben die Illusion, dass Führung ein linearer Prozess ist: Input – Verhalten – Output. In Wirklichkeit ist Führung ein hochdynamischer sozialer Prozess. Er ist geprägt von Rückkopplungen, Missverständnissen, unterschiedlichen Perspektiven und symbolischer Aufladung. Wer in einer Führungsrolle glaubt, Führung lasse sich planen wie ein Projekt, wird zwangsläufig scheitern und wird die Schuld dafür oft bei sich selbst, den eigenen Vorgesetzten oder bei den Mitarbeitenden suchen, statt im System.
Führungskräfte sind verantwortlich für Motivation. Motivation ist ein individueller innerer Prozess und keine Ressource, die sich auf Knopfdruck erzeugen lässt. Führung kann Rahmenbedingungen schaffen, in denen Motivation entstehen kann. Sie kann sie weder garantieren, noch dauerhaft aufrechterhalten. Der Glaube, Führungskräfte müssten ihre Mitarbeitenden „motivieren“, erzeugt ein Überforderungsnarrativ auf beiden Seiten. Führungskräfte fühlen sich für etwas verantwortlich, das sie nicht steuern können und Mitarbeitende erwarten etwas von anderen, das ihnen niemand abnehmen kann.
Führung bedeutet Sichtbarkeit. Wer sichtbar ist, ist wirksam. Das gilt in vielen Organisationen. Doch die nachhaltig wirksamsten Führungskräfte gestalten oft im Hintergrund über ihre Haltung, Präsenz und die bewusste Gestaltung von Räumen und Prozessen. Sichtbarkeit ist dabei ein Nebenprodukt wirksamer Führung, kein Selbstzweck. Wer sich permanent um Sichtbarkeit bemüht, verliert leicht die Verbindung zu dem, was wirklich Wirkung erzeugt und wirkt zu sehr inszeniert.
Mikropraktiken für systemische Wirksamkeit
Wie lässt sich Führung anders denken, jenseits des Mythos der Zuständigkeit für alles? Durch kleine systembewusste Handlungen, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Resonanz zielen:
- Widersprüche herausstellen, statt sie zu lösen: „Das fühlt sich widersprüchlich an, was macht das mit uns?“
- Nicht auf jedes Problem reagieren, sondern erst beobachten: „Was genau macht das zur Herausforderung?“
- Machtverhältnisse sichtbar machen, ohne sie moralisch zu bewerten: „Wer darf hier eigentlich Nein sagen und warum?“
- Tempo herausnehmen, wenn Aktionismus droht: „Was wäre, wenn wir erstmal nichts tun?“
Diese Mikropraktiken erzeugen keine schnellen Lösungen, aber sie öffnen Möglichkeitsräume. Und genau das ist systemisch wirksame Führung: Nicht auf alles Antworten geben, sondern immer wieder neue Fragen ermöglichen.
Was sich ändern müsste und wer anfangen kann
Organisationen müssten Führung systemisch entlasten. Das bedeutet nicht weniger, sondern andere Verantwortung. Nicht allein für Ergebnisse, sondern für Bedingungen, unter denen emergente Intelligenz entstehen kann. Dafür braucht es:
- Formate zur Reflexion systemischer Paradoxien, statt einfacher Führungstrainings.
- Peer-Räume zur kollektiven Fallarbeit, statt nur One-on-Ones mit den eigenen Führungskräften oder Coaches.
- Entkoppelung von Sichtbarkeit und Wirksamkeit. Wer führt, muss nicht permanent sichtbar performen.
- Stärkere Integration von Organisationsentwicklung und HR, um Führung systemisch einzubetten und nicht als zentrale Funktion zu isolieren.
Führungskräfte selbst können beginnen, ihre eigene Rolle neu zu betrachten. Weniger als Umsetzer von Erwartungen, mehr als Gestalter von Möglichkeitsräumen. Das beginnt nicht mit einem neuen Führungsstil, sondern mit dem engagierten Einsatz, eigene Überforderung ohne Schuld oder Scham zu reflektieren. Und mit dem Wissen: Du bist nicht das Problem. Du bist Teil eines Systems, das lernen darf, sich selbst zu irritieren.
Epilog: Entlassung aus der Überverantwortung
Vielleicht ist der erste Schritt, sich selbst symbolisch zu entlassen aus der Vorstellung, alles richtig machen zu müssen. Stattdessen zu lernen, Widersprüche (aus)zuhalten. Raum zu geben. Unsicherheit auszuhalten. Nicht als Zeichen von Schwäche, sondern als Kernkompetenz in einer komplexen Welt.
Ausblick
Im nächsten Artikel schauen wir dorthin, wo alles ganz neu und agil aussieht und trotzdem nichts wirklich anders wird. Viele Organisationen haben Agilität längst eingeführt. Sie arbeiten mit Scrum-Boards, Sprints, Safe-Zertifikaten, agilen Coaches, OKR und Flight-Levels. Auf dem Papier stimmt alles. In der Praxis ist es nicht mehr als kontrollierte Flexibilität unter altem Druck.
In „Agilität im Zeitalter beschleunigter Anpassung“ geht es um die Vereinnahmung progressiver Konzepte, die Probleme von Agilität als Ideologie und um die Frage, warum Organisationen kantige Elemente von Agilität abschleifen, die eigentlich den Unterschied machen würden.
(Das Bild ist mit Chat GPT generiert.)