Schätzungen – muss das denn sein?

Wäre es nicht schön, wenn man in die Zukunft blicken könnte? Man wüsste beispielsweise die Lottozahlen oder könnte möglichen Rahmenbedingungen in der Zukunft bereits in der Gegenwart begegnen. Auch in der Softwareentwicklung wollen wir gerne die Zukunft vorhersagen. Wir nennen das dann Aufwandsschätzung und glauben oder hoffen, dass wir durch besonders ausgefeilte Techniken in die Zukunft blicken können. Wenn wir das nur könnten, dann würden Projekte – klein wie groß –rechtzeitig und innerhalb des Budgets fertig. Wir hätten keine Sorgen mehr.

Tatsache aber ist: Wir können die Zukunft nicht vorhersagen. So sehr wir uns auch anstrengen – auch nach intensiven Versuchen in die Zukunft zu blicken wissen wir Aufwände nicht, sondern können sie nur schätzen. Wir treffen also bei jeder Schätzung nur Annahmen. Wenn aber Schätzungen nur Annahmen und kein Wissen sind, brauchen wir sie dann überhaupt und lohnt es sich, hier viel Zeit zu ver(sch)wenden?

Hierzu ein Beispiel aus dem Leben jenseits der Softwareentwicklung:

Nach 40 Wochen Schwangerschaft (also 9-10 Monaten oder 280 Tagen) ist ein Kind im Bauch komplett ausgebildet und kommt auf die Welt. Das ist die überall bekannte Größe. Der Durchschnittswert zwischen Befruchtung und Geburt liegt allerdings bei nur 266 Tagen. Der frühestgeborene überlebende Mensch kam bereist in der 22. Schwangerschaftswoche – also nach bereits etwa 150 Tagen – auf die Welt. Nicht selten ist auch ein Übertragen um mehr als zwei Wochen. 90 Prozent aller Kinder kommen zwischen vollendeter 37. Woche und vollendeter 42. Woche auf die Welt und nur 4% genau am errechneten, vorhergesagten, geschätzten Termin. Der errechnete und genannte/bekannte Geburtstermin ist also denkbar ungenau. Ist er deswegen für die Schwangere und deren Familie unwichtig? Natürlich nicht.

Die Frage ist für mich also weniger, ob wir Schätzungen brauchen, sondern ob wir Schätzungen wollen.

Für mich kann ich sagen: Ja, ich will Schätzungen – oft und fast überall. Ich will wissen, wann ungefähr mein Kind auf die Welt kommt, ich will wissen, wann die Reparatur meines Autos ungefähr fertig sein wird, ich will wissen, wann meine Bestellung in etwa geliefert wird, ich will wissen, wann der anreisende Besuch vermutlich ankommen wird. Was für das Privatleben gilt, gilt aus meiner Sicht auch für das Berufsleben. Auch ein Kunde will wissen, wann er (s)eine Software nutzen kann, ein Product Owner, wann er ein umgesetztes Feature abnehmen kann, ein Kollege, wann er mit dem Ergebnis eines anderen Kollegen arbeiten kann und so weiter.

Der Sinn von Schätzungen

Der Sinn von Schätzungen ist Planbarkeit. Dabei müssen wir uns immer im Klaren sein, dass selbst die Schätzung einfachster Aufgaben das Risiko birgt, dass die Wirklichkeit weit von der Schätzung entfernt ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schätzung und Wirklichkeit nah beieinander liegen, ist abhängig von Komplexität der Themen, Erfahrung der Schätzenden sowie dem Aufwand, der in Schätzungen investiert wird. Selbst bei wenig komplexen Themen, viel Erfahrung und viel Aufwand in der Schätzung gibt es keine Garantie, dass Schätzung und Wirklichkeit aufeinander liegen, auch hier kann sich die Wirklichkeit (teilweise ganz) anders darstellen als angenommen und damit zu ganz anderen Ergebnissen kommen.

Vor allem im Blick auf den möglichen Aufwand stellt sich also die Frage: Brauche ich eine Schätzung oder erreiche ich vielleicht auch durch andere Ideen und Maßnahmen eine Planbarkeit? Wenn man Planbarkeit durch einfachere und vielleicht zuverlässigere Wege erreichen kann, als durch eine Schätzung von Aufwand, sollte man vielleicht auf aufwändige Schätzungen verzichten. Gleiches gilt, wenn der wahrscheinliche Aufwand für die Schätzung höher wird, als die Umsetzung der geschätzten Aufgabe selbst. Manchmal ist vielleicht auch die schnelle Umsetzung wichtiger als die Kenntnis des Aufwands vorab. Schätzungen müssen also nicht immer sinnvoll sein.

Müssen Schätzungen sein?

Nein, Schätzungen müssen nicht immer sein, sie sind aber auch nicht immer schädlich, wenn man sie weiterhin als Schätzung und nicht als verlässliche Vorhersage betrachtet. Schätzungen sind sinnvoll, wenn sie uns helfen, uns zu organisieren und/oder relevante Entscheidungen zu treffen und uns bei der Koordination von Aufgaben unterstützen. Dabei sollte immer der Aufwand der Schätzung ins Verhältnis zum Wert des möglichen Ergebnisses und dem Risiko der Schätzabweichungen gesetzt werden. Die Schätzung selbst bleibt ein Hilfsmittel für andere Aufgaben (zum Beispiel zu planen oder sich zu organisieren) und bei der Überlegung, warum, ob und wie man Aufwände schätzen möchte, muss die eigentliche Aufgabe, der eigentliche Grund für die Schätzung, im Blick behalten werden.

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