Systemische Perspektiven auf Organisationen sind beliebt, vor allem, wenn es um das Verhalten “normaler” Mitarbeiter geht. Es wird (zu Recht) darauf hingewiesen, dass diese in ihren Entscheidungen oft weniger frei sind, als man meinen könnte. Diverse Kontrollstrukturen, Zielvorgaben und Anweisungen können eigenartiges und schwer nachvollziehbares Verhalten hervorbringen, das nicht unbedingt im Sinne der Organisation sein muss. Diese Perspektive ist wichtig, und wir können an und mit Organisationen effektiver arbeiten, wenn wir an diesen Einflussfaktoren ansetzen, anstatt Probleme über die Persönlichkeiten der Menschen “reparieren” zu wollen.
Solche Kontrollstrukturen, Zielvorgaben und Anweisungen fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern werden von anderen Menschen – oft Führungskräften – erdacht und beschlossen. Etwas merkwürdig ist, wenn einerseits auf systemische Ursachen für Mitarbeiterverhalten hingewiesen, gleichzeitig aber kontrollierendes, direktives Verhalten von Führungskräften im Wesentlichen zu einer Charakterfrage erklärt wird.
Viele Handlungsempfehlungen gegen Micromanagement fallen eher flach aus: Menschen in Leitungsrollen müssten “vertrauen lernen”, “Kontrolle loslassen”, sich ein “modernes Führungsmindset” aneignen, und der Weg dorthin wäre, ihnen das über Schulungen und Leitbilder beizubringen. In der Praxis verpuffen solche Erziehungsversuche oft wirkungslos, wofür sich die Schuld wiederum hervorragend bei den angeblich “veränderungsresistenten” Führungskräften suchen lässt. Besonders überzeugend ist das als Theorie nicht.
Gerade wenn kleinteiliges Kontrollverhalten in einer Organisation weit verbreitet ist, sind systemische Effekte als Ursache wahrscheinlicher als individuelle Persönlichkeitsmerkmale. Wir können davon ausgehen, dass die meisten Führungskräfte auf Micromanagement ebenso wenig Lust haben, wie ihre Mitarbeiter. Es stellt sich also die Frage: Welche Faktoren tragen zu Kontrollverhalten von Führungskräften bei, auch wenn sich eigentlich alle einig sind, dass vertrauensvolles und flexibles Verhalten besser wäre?
Pläne und Umsetzungslücken
In sozialen Systemen – etwa Organisationen – wird Verhalten im Wesentlichen durch zwei zentrale Faktoren geprägt: individuelle Persönlichkeitsmerkmale, und Erwartungen aus der Umwelt (genauer: die Erwartungen, die eine Person ihrer Umwelt unterstellt, aber das macht an dieser Stelle keinen Unterschied). Auch wenn weder Persönlichkeit noch Umwelterwartungen Verhalten eindeutig festlegen, machen die beiden Faktoren bestimmtes Verhalten aber wahrscheinlicher als anderes. Was davon Verhalten stärker prägt, darüber lässt sich diskutieren – unstrittig dürfte sein, dass Strukturen, Regeln und Kultur der Organisation zumindest wichtige Einflussfaktoren auf das Verhalten ihrer Führungskräfte sind.
Damit Micromanagement als Verhalten sinnvoll erscheint, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein. Zum einen braucht es eine Trennung in eine planende (meist die Führungskraft) und eine ausführende Instanz (in der Regel Mitarbeitende, oft organisiert als Team) – wenn das Team selbst plant und ausführt, werden sich Führungskräfte mangels Sachkenntnis im Arbeitsalltag eher zurückhalten. Die Führungskraft muss außerdem Sorgen haben, dass ihr Plan nicht korrekt ausgeführt werden oder nicht die erhofften Ergebnisse liefern könnte. Wie wir gleich sehen werden, sind diese Sorgen in der Regel auch berechtigt, und zwar unabhängig von Fähigkeiten oder Motivation des Teams.
One thing all managers know is that many of the best ideas never get put into practice.
Peter Senge
In seinem Buch “The Art of Action” untersucht der britische Historiker Stephen Bungay die Tatsache, dass Pläne und Strategien in dynamischen Umgebungen selten so umgesetzt werden, wie sie einmal geplant wurden. Konkret nimmt der Autor drei große “Lücken” in einer Planausführung unter die Lupe:
- Die Informationslücke: Es stehen unzureichende oder falsche Informationen zur Verfügung, um einen vollständigen Plan aufstellen zu können, und neue Informationen führen über die Zeit zu Abweichungen vom ursprünglichen Plan.
- Die Ausrichtungslücke: Unterschiedliche Sichtweisen, widersprüchliche Erwartungen und Individualinteressen führen dazu, dass Pläne nicht zuverlässig ausgeführt werden. Menschen weichen – absichtlich oder unabsichtlich – von geplanten Handlungen ab.
- Die Effektlücke: Überraschungen der Umwelt und das Handeln von Dritten sorgen dafür, dass ausgeführte Maßnahmen andere Wirkungen haben als gedacht. Selbst bei perfekter Ausführung lassen sich die Ergebnisse also nicht garantieren.
Die Pointe des Buchs ist, dass diese drei Lücken nie vollständig geschlossen werden können. Verfügbare Informationen verändern sich schneller, als man sie erheben und auswerten könnte. Unterschiedliche Perspektiven und Interessen lassen sich in der Zusammenarbeit mit anderen Menschen nicht verhindern. Ein Plan stellt für Entscheidungen im Alltag immer nur einen unter vielen Einflussfaktoren dar. Ein dynamisches Marktumfeld, mit anderen Parteien, wird immer unerwartete Situationen und Effekte produzieren.
Zu einem gewissen Grad lässt sich durch tiefere Analyse (Informationsgewinn), detailliertere Anweisungen (stärkeres Alignment) und schärfere Umsetzungskontrolle (Managen von Wirkungen, zum Beispiel über KPIs) noch etwas mehr Plantreue erzeugen, es gibt aber immer einen Punkt, ab dem steigende Aufwände und Nebeneffekte dieser Verhaltensweisen den sinkenden Nutzen nicht länger rechtfertigen. Wenn eine Organisation von ihren Führungskräften nun über diesen Punkt hinaus fehlerfreies Entwerfen und Umsetzen detaillierter Pläne erwartet (oder es Teil ihres eigenen Selbstanspruchs ist), entstehen dysfunktionale Verhaltensweisen:
- Die Suche nach immer besseren Informationen führt zu “Analyselähmung“, das heißt es werden immer mehr Daten gesammelt und Konzepte geschrieben, ohne in der Sache Fortschritt zu machen.
- Der Wunsch nach plantreuer Ausführung führt zu kleinteiligen Anweisungen (Micromanagement), meist gleichzeitig von konkurrierenden Stakeholdern, was auf der Teamebene zu Überlast, Multitasking und kurzsichtigem Ad-hoc-Verhalten führt.
- Die Erwartung vorhersagbarer Ergebnisse führt zu detaillierter Kontrolle über Zielvorgaben, Reporting und “objektive” Kennzahlen, was zusätzliche Kapazitäten bindet und Fehlanreize schaffen kann.
“Unfortunately, these reactions do not solve the problem. In fact, they make it worse.”
Stephen Bungay
Führungspersonen müssen nicht zwangsläufig so handeln, aber entsprechende Anreize sind gesetzt. In vielen Fällen resultiert eine Organisation, die trotz hoher Auslastung wenig Ergebnisse vorweisen kann, gestresste Führungskräfte und gleichzeitig desinteressierte Teams produziert und in der die Aufmerksamkeit auf nebensächliche Details statt auf das “Big Picture” gerichtet wird. Oft ist eine große Anzahl externer Berater involviert, die sowohl durch Analysen Entscheidungen rechtfertigen, als auch stellvertretend für die am Anschlag laufende Organisation Ergebnisse produzieren – sie kaschieren das Problem ein Stück weit und erzeugen gleichzeitig Druck auf andere Organisationsbereiche, ebenfalls ihre Produktivität durch externe Unterstützung zu steigern.
Organisationsnarrative, die Micromanagement fördern
Es wäre leicht, die Ursachen für eine solche Situation in falschen Personalentscheidungen (“mit unseren Leuten geht das nicht anders”), Charakterfehlern der Leitungsfiguren (“die müssen lernen, loszulassen”) oder schlicht Schicksal zu suchen (“in großen Firmen ist das halt so”). Dabei entsteht das Verhalten aller Beteiligten als Folge zentraler Glaubenssätze, die sich die Organisation über sich selbst erzählt – Glaubenssätze, die zwar nachvollziehbar, aber eben nicht alternativlos sind:
- Die Aufgabe von Führungskräften ist, möglichst gute Pläne und Ziele zu entwerfen und ihre korrekte Umsetzung durch die Teams sicherzustellen.
- Die Aufgabe von Teams und Abteilungen ist, vorgegebene Aufgaben zügig und zuverlässig umzusetzen.
- Als Organisation sind wir erfolgreich, wenn alle daran arbeiten, die Strategie und Vision der Führungsebene umzusetzen.
- Gute Entscheidungen werden nicht aus dem Bauch heraus getroffen, sondern objektiv aus klaren und eindeutigen Fakten abgeleitet.
- Risiken sind schlecht, sie müssen durch Planung und Vorbereitung minimiert werden.
- Wenn wir etwas tun, machen wir es gleich beim ersten Mal richtig.
- Gute Zusammenarbeit bedeutet, dass alle reibungsfrei und perfekt koordiniert einen vorher definierten Beitrag zum Gesamtergebnis liefern.
- Konflikte sind ein Zeichen dafür, dass irgendwer seinen Job nicht richtig macht.
- Ein Projekt ist erfolgreich, wenn genau das herauskommt, was anfangs geplant war.
Man könnte diese Liste noch beliebig fortsetzen. Ich kann diese Überzeugungen auch im Einzelnen nachvollziehen und die guten Absichten in ihnen erkennen. Meine These ist aber: Je normaler und selbstverständlicher euch die obigen Aussagen vorkommen, desto wahrscheinlicher arbeitet ihr in einer Organisation, die viel Zeit mit Analyse, Planung, Reporting und KPIs verbringt, in der gemessen an der Arbeitslast der spürbare Fortschritt eher enttäuschend ist, und in der sich Verantwortung und Entscheidungen überproportional bei den Führungskräften konzentrieren.
Das Problem ist, dass solche Glaubenssätze Erwartungen an Führungskräfte richten, die schlicht nicht erfüllbar sind. Entscheidungen, die erst zweifelsfrei anhand vollständiger Daten getroffen werden dürfen, kommen zu spät. Pläne, die eindeutig und fehlerfrei umgesetzt werden sollen, ignorieren die komplizierte und konfliktbehaftete Realität des Organisationsalltags. Ziele, die durch vorherige Planung zu erreichen sind, verkennen, dass Ergebnisse eines Projekts auch vom Handeln diverser Mit- und Gegenspieler abhängen und damit in vielen Fällen überhaupt nicht vorab festgelegt werden können. Die Erwartungen, dass Entscheidungen “objektiv” zu treffen sind, “eigensinniges” Verhalten von Mitarbeitern unterbunden werden muss und ein Projekt seine eigenen Ergebnisse zweifelsfrei vorhersagen muss, sind offene Einladungen für Kontrollverhalten und Micromanagement.
In der Regel werden diese Erwartungen in der Organisation nirgendwo so explizit aufgeschrieben wie oben. Vielmehr werden sie zwischen den Zeilen transportiert: Wer wird befördert? Wer bekommt interessante Projekte? Welches Führungsverhalten erntet Anerkennung, welches steht eher unter Rechtfertigungsdruck? Welches Verhalten wird von den oberen Führungsebenen demonstriert? Werden Prioritäten eher durch vordefinierte Pläne oder durch unternehmerisches Abwägen bestimmt? Werden Entscheidungen eher über Kennzahlen und Analysen oder über situative Einschätzung der Menschen vor Ort getroffen?
Je stärker die Organisation den Einschätzungen und Absichten von Menschen misstraut, je stärker die Furcht vor möglichen Risiken im Organisationsalltag zu spüren ist, desto stärker werden Menschen vor Entscheidungen auf Analysen und Fakten bestehen, werden sichergehen wollen, dass Anweisungen wortgetreu umgesetzt anstatt kreativ ausgelegt werden, und über Kennzahlen und Zielvereinbarungen die Ergebnisse zu kontrollieren suchen. Ich will das gar nicht pauschal kritisieren. Es ist sicher gut, wenn beispielsweise eine Klinikärztin auf die Laborwerte eines Blutbilds wartet, anstatt eine Therapie auf reine Bauchentscheidungen zu stützen. Ein gewisses Maß an Analyse, Alignment und Ergebniskontrolle braucht jede Organisation, und abhängig vom Kontext wird dieses ideale Maß mal höher und mal niedriger liegen. Wenn Führungskräfte allerdings über Einzelfälle hinaus als kontrollierend und mikromanagend wahrgenommen werden, ist es wahrscheinlich, dass von ihnen ein höheres Maß an Kontrolle erwartet wird als für ihren Kontext angemessen wäre.
Mögliche Auswege
Kollektive Glaubenssätze zu ändern ist natürlich – gerade in großen Organisationen – ein schwieriges und langwieriges Unterfangen. Erschwert wird ein solcher Prozess unter anderem dadurch, dass die Organisation die ihr zugrundeliegenden Prinzipien in der Regel nie – nie – reflektiert, besonders wenn Verhalten als sichtbare Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen erklärt wird.
Etwas Fortschritt lässt sich erzielen, indem statt strikter Planausführung eher über allgemeine strategische Prioritäten gesteuert wird, ein Ansatz, den Stephen Bungay “gerichteten Opportunismus” nennt. Die beiden Kernprobleme – Führungskräfte einseitig für den Erfolg verantwortlich zu machen, und die Glaubenssätze der Organisation nicht zu hinterfragen – bleiben damit aber weiterhin ungelöst. Peter Senge macht in seinem Klassiker “Die fünfte Disziplin” unmissverständlich klar, dass für ihn eine erfolgreiche Organisation eine ist, die ihre eigenen Grundprinzipien regelmäßig reflektiert und in Frage stellt:
“The most crucial mental models in any organization are those shared by key decision makers. Those models, if unexamined, limit an organization’s range of actions to what is familiar and comfortable. […] Generative learning, in my experience, requires people at all levels who can surface and challenge their mental models before external circumstances compel them to do so.”
Dafür einen Rahmen zu schaffen, Zeit und Energie zur Verfügung zu stellen, habe ich in meiner Arbeit mit Organisationen immer wieder als sehr wertvoll erlebt.
Für den einzelnen Menschen in der Organisation bleibt in der Zwischenzeit die Möglichkeit, den eigenen Handlungsrahmen im Sinne eines “gerichteten Opportunismus” auszuschöpfen. Dazu gehört, die Vorstellung abzulegen, ein idealer Plan würde “oben” erdacht und “unten” möglichst wortgetreu umgesetzt. Strategien werden vielmehr erfolgreich, wenn alle Beteiligten über die Zeit viele kleine, zueinander passende Entscheidungen treffen.
Damit das stattfinden kann, braucht es gemeinsame strategische Prioritäten, nicht kleinteiliges Alignment in der Umsetzung. Pläne gemeinsam, auch über Hierarchieebenen hinweg, zu erstellen, braucht organisatorisch clevere Lösungen, ist aber absolut im Bereich des Möglichen. Entscheidungs- und Ergebnisverantwortung auf Ebene der Umsetzung zu verankern trägt stark dazu bei, dass Führungskräfte ihre Teams als Verbündete, anstatt als zu kontrollierenden Risikofaktor sehen können. Schlussendlich müssen wir erkennen, dass Perfektion zu erwarten in vielen Situationen keine kluge Entscheidung ist. Vor lauter “Stretch Goals” werden die psychologischen und sozialen Nebenwirkungen solcher Druckmechanismen schnell übersehen. Besser ist, wenn wir pragmatische Entscheidungen unter Ungewissheit – im Kern unternehmerisches Verhalten! – respektieren und wertschätzen können, auch und gerade, wenn dabei mal Fehler gemacht werden.
Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Mehrere Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten agilen Transformationen im deutschsprachigen Raum, als Seniorberater hat er zuletzt für Chili and Change Organisationen zu Veränderung, Teamentwicklung und Agilität beraten. Aktuell ist er in der Organisationsentwicklung der Seibert Group, einem kollegial geführten, agilen Softwareunternehmen tätig. Sein Buch “Selbstorganisation im Team” ist im Juni 2023 bei Vahlen erschienen.