Wer Organisationen wirklich verändern will, muss aufhören, sie verändern zu wollen. Klingt paradox? Ist es im klassischen Change-Verständnis auch. Organisationen sind keine Maschinen. Sie sind soziale Systeme. Und solche Systeme verändern sich nicht, weil jemand einen Plan schreibt dem dann alle wie Zahnrädchen folgen. Sondern weil sie nicht anders können.
Warum Organisationen das tun, was sie schon immer getan haben
Organisationen sind soziale Systeme, die durch Entscheidungen operieren. Keine Menschen. Keine Maschinen. Sondern Netzwerke von Entscheidungen, die sich selbst erhalten. Und das oberstes Prinzip ist Anschlussfähigkeit, also Stabilität durch Wiederholung. Deshalb reagieren Organisationen nicht „vernünftig“, sondern systemlogisch.
Neues wird nur aufgenommen, wenn es an bestehende Entscheidungslogiken andocken kann. Fremde Impulse erzeugen Abwehr. Nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Selbstschutz. Paradoxien wie „Sei innovativ, aber mit unseren alten KPIs!“ sind kein Fehler, sondern der Normalzustand.
Viele Change-Projekte scheitern, weil sie genau das ignorieren. Sie wollen Organisationen ändern, statt sie weiterzuentwickeln. Sie greifen das Selbstverständnis an und lösen damit zwangsläufig Abwehr aus.Wer Entwicklung will, muss also Anschluss finden und nicht angreifen, weil so Veränderung wirklich entsteht.
Evolution statt Revolution
Veränderung funktioniert nicht auf Knopfdruck. Sie emergiert, sie entsteht, wenn die Bedingungen stimmen. Konkret bedeutet das, dass Zielbilder, Programme oder Masterpläne in der Regel relativ wirkungslos sind. Stattdessen braucht es Spannung, Resonanz und Bewegung im System. Deshalb denkt evolutionäre Entwicklung nicht in Steuerung (von Veränderung), sondern in Ermöglichung.
- Sinnvolle Irritation: Entwicklung beginnt mit Störung. Systeme verändern sich nicht, wenn alles bleibt wie es ist, sondern wenn etwas nicht mehr ganz passt.
- Geschützte Experimentierräume: Neues braucht Räume, in denen es sich zeigen darf, ohne gleich bewertet oder operationalisiert zu werden.
- Anschlussfähigkeit: Irritation wirkt nur, wenn sie irgendwo andocken kann. Ist sie zu fremd, wird sie abgewehrt. Ist sie zu vertraut, bleibt alles beim Alten.
Hier liegt die eigentliche Kunst. Irritieren ohne abzustoßen. Anschluss finden, ohne einzuschläfern. Anders gesagt entsteht Veränderung nicht im harmonischen Konsens, aber auch nicht durch radikalen Bruch. Sie entsteht an der Grenze. Dort, wo etwas noch gerade so verstehbar ist und deswegen neu ist.
Dieses Prinzip ist nicht nur systemtheoretisch relevant, sondern auch psychologisch anschlussfähig. Die Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan zeigt, dass Menschen sich dann entwickeln, wenn sie sich autonom, kompetent und sozial eingebunden fühlen. Genau das gilt auch für Organisationen in denen Menschen agieren. Sie verändern sich, wenn Impulse nicht von außen übergestülpt, sondern von innen anschlussfähig gemacht werden. Irritation von außen, anschlussfähige Entwicklung von innen.
Und genau deshalb braucht Entwicklung Ambivalenz. Sie braucht Spannungen, Widersprüche, Mehrdeutigkeiten nicht als Fehler, sondern als Material für das Neue. Denn wie in der Entwicklungspsychologie gilt auch hier, dass Wachstum an der Grenze des Bekannten passiert und nicht im sicheren Terrain. Insofern ist echte Agilität in Organisationen keine Methode, sondern ein evolutionäres Prinzip.
Inspect and adapt
Agilität wird oft als Methodenkoffer verkauft, als eine Sammlung von Tools und Frameworks, die man nach Belieben anwenden kann. Doch im Kern ist Agilität viel mehr als das. Sie ist ein evolutionärer Prozess. Sie basiert auf der kontinuierlichen Beobachtung des Systems und der Fähigkeit, sich dynamisch anzupassen. Das, was wir als „Inspect & Adapt“ kennen, ist nichts anderes als der Reflexions- und Anpassungszyklus, den jedes lebendige System durchläuft, wenn es sich weiterentwickeln möchte. Agilität funktioniert dabei nur unter bestimmten Voraussetzungen, wenn:
- Beobachtung institutionalisiert wird: Um im kontinuierlichen Anpassungsprozess zu bleiben, braucht es strukturierte Momente der Reflexion. Das können Retrospektiven, Feedbackroutinen oder regelmäßige Review-Phasen oder andere Formate sein. Es braucht ein grundsätzliches Selbstverständnis, dass beobachtet und angepasst wird.
- Lernen belohnt statt bestraft wird: Scheitern gehört zum Lernprozess. Nur wenn Fehler nicht ausschließlich als Makel, sondern als wertvolle Erkenntnisquellen behandelt werden, kann echter Wandel stattfinden.
- Widersprüche ausgehalten werden: Widersprüche sind der Nährboden für Neues. Sie zu ignorieren oder zu glätten, heißt, Entwicklung zu verhindern.
Agilität ist keine Rezeptlösung, sondern eine Grundlage, die Unsicherheit nicht als Problem, sondern als Einladung zur Entwicklung begreift. Und das geht weit über die Anwendung eines Methodenkoffers hinaus.
Die wahre Herausforderung für Organisationen ist es, sich nicht von Unsicherheit zu distanzieren, sondern sie zu akzeptieren und als wertvolle Ressource zu nutzen. Veränderung ist der natürliche Zustand eines lebendigen Systems und Agilität ist der Weg, diesen Prozess bewusst zu gestalten. Letztendlich geht es um Orientierung, ohne das Zielbild genau definiert zu haben,
Die evolutionäre Landkarte
Wer Veränderung plant, braucht keinen Fahrplan, sondern einen Kompass. Während klassische Change-Ansätze mit Zielbildern und Maßnahmenkatalogen arbeiten, geht es in der evolutionären Perspektive um Orientierung entlang von Prinzipien. Es geht nicht um das Erreichen definierter Zustände, sondern um das Schaffen von Entwicklungsmöglichkeiten.
Eine einfache, aber wirksame Landkarte hilft dabei, genau solche Möglichkeitsräume in Organisationen sichtbar zu machen, unabhängig davon, ob ein konkretes Ziel formuliert ist oder nicht.
Drei Koordinaten von Entwicklung:
- Strukturelle Offenheit: Wie viel Entscheidungsspielraum existiert jenseits formaler Hierarchien? Wo gibt es Grenzräume, Experimentierräume oder temporäre Strukturen, die neues Verhalten ermöglichen?
- Irritationsfähigkeit: Wie geht das System mit Spannungen und Abweichungen um? Wird Neues integriert oder reflexhaft abgewehrt? Wie werden Widersprüche sichtbar und bearbeitbar?
- Lernverhalten: Wie wird aus Erfahrung kollektives Wissen? Gibt es Feedbackschleifen, Reflexionsräume und sichere Zonen, in denen auch Scheitern produktiv genutzt werden kann?
Diese drei Dimensionen ersetzen keine Transformation. Aber sie zeigen, wo bereits Bewegung möglich ist und wo das System sich selbst im Weg steht.
Lernen wie wir lernen
Um die Potenziale dieser Landkarte wirklich zu nutzen, reicht es nicht, auf Prozessebene zu arbeiten. Es braucht eine zusätzliche Perspektive: die auf das Lernen selbst. Gregory Bateson unterscheidet hier zwei Ebenen:
Lernen 1. Ordnung bedeutet, Inhalte, Rollen oder Prozesse zu verändern, zum Beispiel durch neue Tools, Trainings oder Methoden.
Lernen 2. Ordnung geht tiefer. Es fragt, wie das System überhaupt lernt? Welche Routinen, impliziten Regeln oder kulturellen Muster strukturieren dieses Lernen? Was bleibt unsichtbar, obwohl es entscheidend ist?
Ein einfaches Beispiel
Wenn eine Organisation nach jedem gescheiterten Projekt Prozesse anpasst oder Verantwortliche austauscht, bleibt sie auf der Ebene des Lernens 1. Ordnung. Wenn sie sich hingegen fragt, warum sie immer wieder ähnliche Fehler macht, welche blinden Flecken bestehen, welche Annahmen über Erfolg oder Verantwortung dominieren, dann beginnt Lernen 2. Ordnung.
Evolutionäre Entwicklung heißt, genau solche Selbstbeobachtungen nicht als neue Prozesse zu ermöglichen, sondern als Räume, in denen sich das System selbst reflektieren kann. Das kann über gezielte Meta-Fragen in Retrospektiven geschehen, über interdisziplinäre Lernformate oder durch Dialogräume, in denen Beobachtung vor Bewertung steht.
Ein beispielhafter Fall aus der Praxis könnte sein: In einem Unternehmen wurden regelmäßig Innovationsinitiativen mit großem Aufwand gestartet. Kaum eine davon entfaltete nachhaltige Wirkung. Ideen versandeten, Fehler wurden nicht offen angesprochen. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass es kaum Raum für echte Reflexion gab. Kritik wurde schnell als Angriff gewertet, Rückzug war sicherer als Experiment. Die Organisation „lernte“, Risiken zu vermeiden und stabilisierte damit genau das, was sie zu verändern versuchte.
Orientierung durch Beobachtung
Die Frage ist also nicht nur: Was muss sich ändern? Sondern viel mehr, wie Lernen in diesem System funktioniert und was es verhindert. Fragen wie die folgenden könnten gestellt werden.
- Wo in der Organisation sind strukturelle Offenheit, Irritationsfähigkeit und Lernen in ihrer vollen Ausprägung sichtbar und wo nicht?
- Wo gibt es Räume, in denen nicht nur entschieden, sondern auch die Art des Entscheidens beobachtet werden kann?
Solche Fragen machen Entwicklung nicht nur möglich, sondern lenken den Blick auf das, was bereits angelegt ist und auf das, was noch übersehen oder blockiert wird. Und wie funktioniert eine Diagnose, ohne Schubladisierung?
Fragen statt Antworten
Evolutionäre Entwicklung beginnt nicht mit Maßnahmen, sondern mit Beobachtung. Wer Organisationen verändern will, muss zuerst verstehen, wie sie funktionieren. Das betrifft ihre Strukturen und auch ihre Routinen, Muster und impliziten Regeln. Das gelingt nicht durch vorschnelle Diagnosen, sondern durch präzise Fragen, die neue Perspektiven eröffnen und die Aufmerksamkeit auf das lenken, was sonst übersehen wird.
Fragen wirken in diesem Kontext wie systemische Interventionen. Sie zwingen nicht zur schnellen Lösung, sondern ermöglichen Reflexion und eröffnen Räume, in denen sich neue Antworten von innen heraus entwickeln können.
Drei Ebenen der Selbstbeobachtung
- Individuum: Wann handle ich aus Angst und wann aus Überzeugung? Wo halte ich an Routinen fest, obwohl sie mir nicht mehr dienen? Was würde ich tun, wenn ich völlig scheitern dürfte?
- Team: Welche Muster wiederholen sich und warum? Was feiern wir öffentlich und was verschweigen wir lieber? Welche unserer Einigungen sind echte Übereinstimmung und welche bloßer Harmonieersatz?
- Organisation: Welche Narrative stabilisieren das Alte? Wo geschieht Entwicklung ganz ohne offiziellen Auftrag? Welche unausgesprochenen Regeln sind so selbstverständlich, dass sie niemand hinterfragt?
Diese Fragen sind keine Checklisten zur Optimierung. Sie sind Einladungen zur Selbstbeobachtung auf einer Ebene, auf der Organisationen beginnen können, sich selbst als lernende Systeme wahrzunehmen. Und das Beste ist, dass die ersten Schritte dahin gar nicht aufwändig sind.
Was du tun kannst? Wähle eine der Fragen aus für dich, dein Team oder einen organisationalen Kontext und bring sie bewusst in einen bestehenden Raum. Das kann ein Daily, eine Retrospektive oder ein Entwicklungsgespräch sein. Beobachte, wie das System reagiert. Welche Antworten entstehen und welche bleiben aus? Entwicklung beginnt dort, wo eine Organisation sich selbst zuhört um Probleme und Zusammenhänge zu erkennen, ohne sich gleich verändern zu müssen.
Möglichkeitsarchitekten
Führung im evolutionären Kontext bedeutet nicht, Entwicklung zu steuern, sondern Bedingungen zu schaffen, unter denen sie möglich wird. An die Stelle von Kontrolle tritt Rahmung. An die Stelle von Zielvorgaben tritt Aufmerksamkeit für das, was bereits entsteht. Geplante Veränderung, die ein ganuz bestimmtes und konkretes Ziel erreichen möchte ist langwierig, aufwändig. und häufig enttäuschend wirkungslos, weil bestehende Muster der Organisation stärker sind. Wer Organisationen wirksam entwickeln möchte, muss orientieren, beobachten, gezielte konkrete Maßnahmen ergreifen und wieder beobachten. Das braucht Menschen in Führungsrollen, die Orientierung geben, ohne ganz konkret die Richtung vorzugeben. Die Ungewissheit nicht verwalten, sondern gestalten. Und die bereit sind, das System nicht mit Druck, sondern durch neue Fragen, Perspektiven und gezielte Spannungen zu irritieren.
Führung heißt also, Räume offen halten, in denen nicht sofort entschieden werden muss. Ambivalenz zulassen. Widersprüche aushalten. Denn gerade dort, wo das Alte nicht mehr greift, aber das Neue noch nicht klar ist, beginnt echte Entwicklung.
Ein beispielhafter Fall aus der Praxis könnte sein: Ein Team driftet nach mehreren gescheiterten Initiativen in Zynismus ab. Statt mit Motivationstrainings zu reagieren, stellt eine Führungskraft die Frage: Was machen wir hier eigentlich mit dem, was nicht funktioniert und was brauchen wir, um trotzdem weiterzudenken? Solche Irritationen wirken nicht, weil sie eine Lösung bringen, sondern weil sie Muster durchbrechen, ohne sie anzugreifen. Führung bedeutet, diese Räume bewusst zu gestalten. Es geht nicht ums Anbieten von Antworten, sondern ums Ermöglichen von Reflexion und Erkundung.
Mehr als Change-Dienstleister
Häufig hört man von der “dienenden Fhrungskraft”, dem “servant Leader”. Noch viel relevanter als die Unterstützung von Mitarbeitenden ist es, zum Architekten für Veränderungsmöglichkeit zu werden. Gleiches gilt auch für HR und der dort häufig verankerten Organisationsentwicklung. Sie können zu internen Architekten von Veränderung werden. Doch in klassischen Change-Programmen geraten sie selbst zu oft eher in die Rolle von Steuerungsinstanzen und blockieren damit genau das, was sie ermöglichen wollen, nämlich die selbstorganisierte Entwicklung.
In einem evolutionären Verständnis geht es nicht darum, Veränderung zu designen, sondern Entwicklung zu ermöglichen. Das heißt, es geht weniger um Change-Projekte und mehr um strukturelle Aufmerksamkeit. Weniger Programme, mehr Räume. Und weniger Fokus auf das Neue, sondern mehr Interesse für das, was sich bereits verändert, aber noch nicht sichtbar ist.
Ein beispielhafter Fall aus der Praxis könnte sein: Statt eine neue Führungskräfteentwicklung zu initiieren, beginnt ein Team, bereits bestehende Resonanzräume im Unternehmen sichtbar zu machen. Hier ein crossfunktionales Projekt, das ungewöhnlich schnell Vertrauen aufgebaut hat, dort ein internes Netzwerk, das informell Wissen teilt. Daraus entsteht kein Programm, aber ein Lernfeld, das sich möglicherweise lohnt zu verstärken. So wird die Organisationsentwicklung und HR neben Führungsrollen nicht zu „Gestaltern“, sondern zu Beobachtern und Verstärkern emergenter Dynamiken. Sie schaffen Strukturen, die Selbstorganisation nicht stören, sondern intendierte Veränderungen unterstützen.
Entwicklung entsteht ungeplant
Organisationen entwickeln sich nicht, weil sie es wollen. Sie entwickeln sich, weil sich ihre inneren Muster nicht mehr stabil reproduzieren lassen. Entwicklung geschieht dort, wo Routinen brüchig werden, Irritationen nicht abgewehrt werden und neue Anschlussmöglichkeiten entstehen.
Evolutionäre Veränderung folgt keiner Roadmap. Sie entsteht durch das bewusste Schaffen von Bedingungen. Es geht um strukturelle Offenheit, die Raum für Experimente lässt. Irritationsfähigkeit, die Widersprüche nicht sofort auflöst sind wichtig. Und Lernverhalten, das nicht nur Effizienz steigert, sondern Beobachtung ermöglicht, ist elementar. Dafür braucht es keine Veränderungsprojekte sondern Systeme, die sich selbst beim Verändern beobachten können.
Ausblick
„Nur Druck erzeugt Veränderung“ ist als Narrativ genau so weit verbreitet wie trügerisch. Denn nicht jedes Leiden führt zu Lernen, und nicht jeder Schmerz schafft Entwicklung. Im nächsten Artikel „No Pain, No Change?“ werfen wir einen tieferen Blick auf die Unterscheidung zwischen produktiver Irritation und dysfunktionalem Stress. Wir zeigen, warum nicht jede Krise transformativ ist und was Organisationen brauchen, um Entwicklung auch ohne Krise möglich zu machen.
(Das Bild ist mit Chat GPT generiert.)