Manchmal muss ich meine Gedanken sortieren. Dann sitze ich am liebsten zu Hause auf meiner Terrasse und schaue in meinen kleinen Garten. Vögel fliegen von Baum zu Busch. Im Hintergrund höre ich Kinder auf dem Spielplatz. Eine Katze tigert durchs Gras. Aus Sicht der Leistungsgesellschaft mache ich in diesem Moment einfach nichts.
„Wer nichts macht, arbeitet auch nicht und ist faul.“ Wir leben in einer Welt, die Aktivität mit Bedeutung gleichsetzt. Wer fleißig ist und immer viel macht, ist sichtbar. Wer sichtbar ist, hat Erfolg. LinkedIn ist ein gutes Beispiel. Denn nur wer dort regelmäßig viel schreibt und kommentiert, taucht überhaupt auf.
Die Abwesenheit von sichtbarer Anstrengung wird mindestens im Kontext von Arbeit schnell als Faulheit oder gar Inkompetenz interpretiert. Dieses ungeschriebene Gesetz prägt unsere Meeting-Kulturen, unsere E-Mail-Postfächer, und unsere gesamte Organisationsarchitektur. Es ist der Motor des Aktionismus, eine unaufhaltsame Maschinerie, die uns alle in Bewegung hält, ob es nötig ist oder nicht. Doch ich frage mich immer öfter, was eigentlich passiert, wenn wir diese Maschine anhalten? Liegt vielleicht genau darin der eigentliche Fortschritt? Und kann Nichtstun Teil einer produktiven Haltung sein?
Der Mythos der ständigen Präsenz
Ich erinnere mich an einen meiner ersten Chefs, der mir sagte: „In unserer Branche musst du immer einen Schritt voraus sein. Pause machen können die anderen.“ Vermutlich meinte er es gut und wollte mich zu Beginn meiner Kariere vor dem Scheitern bewahren, indem er mir deutlich macht, wie wertvoll unermüdlicher Einsatz ist. (Vielleicht wollte er auch einfach nur einen sehr engagierten Mitarbeiter.) Erst nach vielen Jahren habe ich gelernt, dass das kein Rezept für nachhaltigen Erfolg, sondern für Erschöpfung ist. Der ständige Druck, präsent, erreichbar und reaktionsschnell zu sein, erzeugt eine Art Dauerrauschen, das sich in Zeiten von Remote-Work weiter verstärkt. Wir glauben, nur wer immer online ist, immer antwortet, immer ansprechbar ist, sei wirklich relevant. Diese Haltung, noch verstärkt durch die Aufmerksamkeitsökonomie moderner und vor allem sozialer Medien, sind der Nährboden für die weit verbreitete Haltung, dass Nichtstun dem beruflichen Untergang gleichkommt.
Dieser Druck führt zu einer kognitiven Überforderung, die sich schleichend in unsere Teams und unsere Unternehmenskultur frisst. Die Aufmerksamkeit wird fragmentiert. Der Blick auf das große Ganze, die Fähigkeit zur strategischen Weitsicht, geht verloren. Wir reagieren, statt zu agieren. Wir arbeiten in einem Hamsterrad, in dem die Geschwindigkeit wichtiger ist, als die Richtung. Und damit drehen wir uns mehr und mehr und immer schneller im Kreis.
Was sagt die Neurobiologie?
Der Weg aus diesem Dilemma beginnt mit einer fundamentalen, wissenschaftlich belegten Erkenntnis. Unser Gehirn ist gar nicht für ununterbrochene Aktivität gemacht. Es ist eine Schaltzentrale, die zwischen zwei grundlegenden Zuständen umschaltet.
Da ist zum einen der Modus, den wir alle kennen. Das ist die bewusste und zielgerichtete Arbeit. Der fokussierte Blick auf den Bildschirm, die Analyse von Daten, die Konzentration auf eine Aufgabe, das Verfolgen eines Ziels. Wissenschaftler nennen dies das Task-Positive Network (TPN). Es ist unser Werkzeug für Effizienz und Problemlösung im Hier und Jetzt. In diesem Zustand sind wir am lautesten, am sichtbarsten, und vermeintlich am „produktivsten“.
Und dann gibt es den anderen Zustand, in dem wir eigentlich nichts Bestimmtes tun. Unser Geist treibt ziellos dahin, assoziiert frei. Vielleicht schauen wir aus dem Fenster oder starren in die Ferne. In diesem Modus wird unser Default Mode Network (DMN) aktiv. Dieses neuronale Netzwerk ist aber nicht faul oder untätig. Es verarbeitet Erlebtes, konsolidiert Wissen, knüpft scheinbar unzusammenhängende Fäden zu neuen Ideen und schafft Verbindungen, auf die wir mit bewusster Anstrengung niemals gekommen wären. Das ist also die unsichtbare Arbeit unseres Verstandes. Es ist der Moment, in dem das Gehirn aufräumt und sich neu sortiert, die fragmentierten Informationen defragmentiert, um für die nächste Aufgabe bereit zu sein.
Ich habe die besten Einfälle, wenn ich nichts tue. Ich meine, absolut nichts.
Salvador Dalí
Forschungen in der Neurowissenschaft bestätigen das ziemlich eindeutig. In einer Studie an Mäusen wurde festgestellt, dass tägliche Zeit in Stille das Wachstum neuer Nervenzellen im Hippocampus fördert. Das ist die Hirnregion, die für Gedächtnis und Lernen entscheidend ist. (Die Studie von Imke Kirste und Kollegen wurde 2013 in der Fachzeitschrift Frontiers in Neuroscience veröffentlicht.) Was für Mäuse gilt, gilt auch für uns. Die Stille, die scheinbare Leere, ist ein Nährboden für neuronale Gesundheit. Und das berühmte „Aha-Erlebnis“ ist kein Moment, der zwischen zwei Terminen gehetzt am Bildschirm entsteht, sondern das erkennbare Ergebnis dieser internen Arbeit in Stille, Pause und Ruhe.
Es gibt es einen weiteren Grund, der die Notwendigkeit von Pausen unterstreicht. Pausen sind Phasen mit geringer Reizbelastung und das hilft, das Stresslevel zu senken. Meditation und Achtsamkeitspraktiken belegen, dass gezielte Ruhe unser emotionales Stresszentrum (die Amygdala) beruhigt und die emotionale Balance unterstützt. Stress und Ängste werden reduziert. Das führt zu mehr Gesundheit und Resilienz. Und das beides macht und widerstandsfähiger für die unvermeidlichen Herausforderungen des Arbeitsalltags und führt letztendlich zu besseren Entscheidungen.
Wichtig ist nicht zu übersehen, dass es ein Spannungsfeld zwischen „produktiver Muße“ und „destruktiver Untätigkeit“ gibt. Dauerhafte, sinnfreie Untätigkeit, wie zum Beispiel soziale Isolation oder schlicht ein Mangel an sinnstiftender Aktivität, kann zu Antriebslosigkeit bis hin zu Depression führen. Die Kunst besteht also nicht darin, die Arbeit komplett zu meiden, sondern den ausgewogenen Wechsel zwischen Aktivität und Regeneration zu finden. Und darin ist die Pause keine Zeitverschwendung, sondern eine essenzielle Ressource.
Ein ganzes System im Stillstand
Was für das Individuum gilt, gilt für Teams und Organisationen im Ganzen. Ich habe immer wieder Teams beobachtet, die von einem Meeting zum nächsten hetzen. Ein unaufhörlicher Strom von Agendapunkten, Projekten und Dringlichkeiten. In dieser Hektik fehlt die Zeit für den sozialen Klebstoff. Der informelle Austausch, das gemeinsame Lachen bei einem Kaffee, der kurze ungeplante Austausch in der Küche fehlen, obwohl sie viel bewirken. Es sind diese Momente der kollektiven Pause, die sich auch nur sehr schwer (wenn überhaupt) in einer rein virtuellen Umgebung herstellen lassen und in denen Vertrauen aufgebaut wird, das über das rein Notwendige für die Erledigungen der Aufgaben hinaus geht. Hier werden ungelöste Spannungen unbewusst abgebaut und es tauchen neue Ideen aus dem Nichts auf.
Organisationen sind komplexe Systeme. Dauerhafter, ungesteuerter Aktionismus wird für solche Systeme zu einem Problem. Er führt zu Überreizung, zu starren Mustern und das lässt schlussendlich Brüche in der Selbststeuerung entstehen. Die Organisation verliert ihre Fähigkeit, sich flexibel an ihre Umwelt anzupassen. Sie wird blind für neue Impulse, weil alle Energie in die Aufrechterhaltung des bestehenden Betriebs fließt. Wie ein Motor, der ohne Kühlung läuft. Das System überhitzt und droht zu kollabieren.
Eine Kultur, die Pausen misstrauisch beäugt, sorgt dafür, dass Pausen sehr kurz gehalten oder sogar heimlich gemacht und im schlimmsten Fall ganz ausgelassen werden. Mitarbeitende verstecken ihre Pausen und fühlen sich schuldig, wenn sie nicht sichtbar arbeiten. Genau diese Kultur aber ist es, die die wertvollen Effekte der Regeneration verhindert. Was wie hohe Effizienz wirkt, weil keine Zeit verschwendet wird, ist mittel- und langfristig aber ein großes Problem. Langfristig profitieren Organisationen durch Pausen von erhöhter Produktivität, Kreativität und geringerer Fluktuation, die Freiräume für echte Erholung schaffen. Die Investition in Pausen zahlt sich also aus.
Die Kunst des Innehaltens
In meiner Arbeit habe ich gelernt, dass Wandel oft nicht durch große Programme, sondern durch kleines, leises Andersmachen beginnt. Es sind subtile Interventionen, die das System irritieren und zum Nachdenken anregen. Es geht bei mehr Pausen also darum, das Nichtstun aus seinem schlechten Image zu holen und es als das zu sehen, was es ist: Eine strategische Ressource für Innovation und Resilienz.
Die Erholung ist ein Teil der Arbeit.
Karl Marx
Hier sind ein paar Beispiele aus meinem Alltag, die ich mit Führungskräften und Teams praktiziere:
- Gekürzte Termine: Wir arbeiten fast ausschließlich Remote zusammen. Unsere einstündigen Termine dauern nur 50 Minuten, 30 minütiges Termine werden auf 25 Minuten beschränkt, längere Termine haben wir in der Regel nicht. Diese 5 bzw. 10 Minuten haben wir für uns als Pause zwischen den Terminen definiert.
- Treffen mit Pausen: Wenn wir uns ganze Tage vor Ort treffen, nehmen wir uns Zeit für Pausen. Wir starten manchmal mit einem gemeinsamen Frühstück, zu dem jeder etwas mitbringt. Wir planen großzügige Pausen ein, mittags eher 1,5 Statt 0,5 Stunden beispielsweise, und nehmen uns Zeit für informellen Austausch.
- Der “Fokus-Block”: Ich empfehle, sich nicht nur Termine für Meetings zu blocken, sondern auch ganz bewusst Zeiten im Kalender, um Pausen zu machen und einfach nur zu denken. Nicht, um E-Mails abzuarbeiten oder To-do-Listen zu optimieren, sondern um den Gedanken freien Lauf zu lassen. Ich selbst habe diese Blöcke in meinem Kalender.
- “Walk & Talks” statt Meetingraum: Wir verlagern den Ort der Besprechung. Statt im engen Meetingraum zu sitzen, gehen wir spazieren. Das Gehen im Freien löst das enge Korsett der Besprechungsstruktur und öffnet den Geist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Qualität der Gespräche dabei fundamental ändert. Die Anwesenheit wird präsenter, die Kommunikation ehrlicher. Auch wenn ich remote arbeite, mache ich manche Termine über das Mobiltelefon beim Spaziergang.
- Reflexions-Check-ins: Ich beginne manche Meetings nicht mit der üblichen Frage „Was müssen wir heute erledigen?“, sondern mit einer reflexiven Frage wie „Was war unser größter Erfolg letzte Woche, und was haben wir daraus gelernt?“ oder „Was ist uns in den letzten Tagen aufgefallen, das wir uns näher ansehen sollten?“. Es schafft eine kurze, aber wirkungsvolle Pause im Tagesgeschäft. Es zwingt das Team, kurz aus dem Hamsterrad auszusteigen und einen Blick von oben auf das Geschehen zu werfen.
- Meeting-freie Tage: Für die systemische Ebene sind ganze Meeting-freie Tage eine kraftvolle Botschaft. Sie signalisieren, dass es der Organisation ernst ist mit der Förderung von Deep Work und autonomer Zeiteinteilung. Solche Unterbrechungen sind ein Wartungsintervall für das gesamte System. Im letzten Unternehmen haben wir solche Tage für alle IT Teams synchronisiert.
- Digitale Achtsamkeit: In hybriden Settings ist es essenziell, Räume für informellen Austausch bewusst zu schaffen. Gleichzeitig kann man kleine Regeln einführen, wie E-Mail-freie Stunden oder das Ausblenden von Push-Benachrichtigungen, um die Reizüberflutung zu reduzieren und dem Gehirn diese notwendigen Ruhephasen zu ermöglichen.
Diese kleinen Gesten sind kraftvoll. Sie laden dazu ein, die Arbeit anders zu betrachten. Sie senden das Signal aus, dass Reflexion wertvoller ist als ständige Hektik. Sie sind der erste Schritt für eine Leistungskultur, die notwendige Regeneration ermöglicht.
Die Einladung zum Umdenken
Meine Gedanken hier sind keine fertige Lösung, sie sind eine Einladung, die eigene Haltung zu Aktivität und Leistung zu hinterfragen und Pausen in einem positiveren Licht zu sehen. Was wäre, wenn wir uns selbst und unseren Teams ganz bewusst Räume des Nichtstuns schenken würden? Gut gestaltet und organisiert. Wie würde sich unsere Zusammenarbeit, unsere Innovationskraft und unser Wohlbefinden verändern?
Alle großen Gedanken kommen aus der Stille.
Antoine de Saint-Exupéry
Der wahre Fortschritt liegt vielleicht nicht in immer mehr Verdichtung und Beschleunigung, sondern in der bewussten Verlangsamung und Entzerrung. Und vielleicht ist der mutigste Schritt, den eine Führungskraft heute machen kann nicht, mehr zu fordern, sondern den Moment zu schaffen, in dem man einfach nur am Fenster sitzt und das Leben beobachtet, um danach mit klarem Kopf wieder loszulegen.
Ich lade dazu ein, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Was könntest du in deinem Kontext anders machen? Was wäre ein erster, kleiner Schritt, um strategische Pausen zu etablieren? Schreib mir gerne. Ich bin immer daran interessiert, mit Menschen über solche Fragen in den Austausch zu gehen, selbst zu lernen oder Unternehmen bei solchen und anderen Veränderungen zu unterstützen.
(Das Bild ist mit Google Gemini generiert.)