Vor einigen Jahren stand ich vor den Scherben meiner Ehe. Es war ein Mittwoch, als meine damalige Frau mir sagte, dass sie die Beziehung nicht weiterführen konnte. Drei Kinder, ein fordernder Job in einer Führungsrolle, ein vollgepackter Alltag und plötzlich Stillstand, Verletzung, Schmerz, Ungewissheit.
Ich war offen, ehrlich, klar, ohne zu wissen, was das auslösen würde. Was ich erlebt habe, prägt mich bis heute: Rückhalt, Menschlichkeit, Unterstützung, Vertrauen. Mein Chef sagte: “Wenn du dich rausziehen willst, nimm dir die Zeit. Kein Problem.” Mein Team fragte: “Was können wir übernehmen?” Und der Geschäftsführer teilte sogar eigene Erfahrungen, bot mir jederzeit sein Ohr an. Diese Reaktionen gaben mir das Gefühl, nicht allein zu sein, nicht unbedingt funktionieren zu müssen und trotzdem weitermachen zu können, mit viel Verständnis und Unterstützung meines Umfelds.
Weil es Auswirkungen auf die Organisation hat
In Organisationen herrscht nicht selten ein implizites Narrativ, das häufig mehr verhindert als fördert. Führungskräfte haben sich zusammenzureißen, müssen stark sein, ein Anker für alle anderen. Sie sind das stabile Element im System, das Orientierung gibt. Doch was passiert, wenn gerade diese Stabilität nicht da ist?
Systemtheoretisch betrachtet ist jede Organisation ein soziales System, das über Kommunikation operiert. Auch eine persönliche Krise, wie beispielsweise eine Trennung, ist nicht einfach nur ein privates Ereignis. Sie wirkt sich auch auf das System Arbeit und Organisation aus. Mindestens, weil sie die Kommunikationsmuster verändert. Körpersprache, An- oder Abwesenheit, Entscheidungsverhalten, Prioritätensetzung. All das wird beeinflusst von der individuellen Situation der betroffenen Person. Wenn ich mit einer inneren Zerreißprobe konfrontiert und mit belastenden Situationen aus dem Privatleben belastet bin, spürt das in der Regel auch mein Team bei der Arbeit. Und das gilt meist auch, wenn ich gar nichts dazu sage.
In meinem Fall habe ich nicht geschwiegen. Nicht weil ich mich als besonders mutig bezeichnen würde, sondern weil ich es nicht anders konnte. Ich bin nicht der Typ, der sich verstellt. Ich hatte das Glück, in einem Umfeld zu arbeiten, in dem gegenseitiges Zu- und Vertrauen schon vor meiner Krise für mich entstanden ist. Und mir ist bewusst, viele Führungskräfte haben dieses Glück nicht.
Deshalb ist meine Botschaft: Schenke Zutrauen, investiere in Vertrauen, tagtäglich. Du könntest es irgendwann mehr brauchen, als du vielleicht zum aktuellen Zeitpunkt denkst. Schaffe Räume, in denen du nicht der oder die Unerschütterliche sein musst, an dem oder der alles hängt. Denn kein System funktioniert langfristig, wenn keine Ausfallzeiten erlaubt sind.
Wo Emotionale Intelligenz beginnt
Daniel Goleman hat mit dem Begriff der “emotionalen Intelligenz” eine neue Perspektive auf Führung und Selbstführung möglich gemacht. Doch was bedeutet es konkret, wenn du dich innerlich zerrissen fühlst und das Gefühl hast, das alles nicht mehr stemmen, organisieren, bewältigen zu können?
Aus meiner Erfahrung ist Selbstkontakt der erste und wichtigste Schritt, um wieder handlungsfähig zu werden. Selbstkontakt meint die Fähigkeit, die eigene emotionale Lage bewusst wahrzunehmen und klar zu benennen. Gerade in akuten Belastungssituationen verengt sich unser kognitiver Fokus, wir geraten in eine Art Tunnelwahrnehmung, das berühmte Fight-, Flight- oder Freeze-Verhalten wird aktiviert. Ohne bewusste Benennung und Wahrnehmung dieser Zustände geraten wir in unkontrollierte Reaktionsmuster.
Dabei ist es gut zu wissen, dass schon einfache verbale Anerkennung eigener Gefühle, wie “Ich bin gerade überfordert” die Selbstregulation aktivieren und den Stress reduzieren kann. Das ist keine Schwäche, sondern ein erster Schritt zur Klarheit und der Rückgewinnung eigener Kontrolle. Diese Fähigkeit lässt sich trainieren und muss nicht heißen, dass du in Meetings oder vor dem Team deine Emotionen ausbreitest. Vielmehr geht es darum, deinen inneren Zustand ehrlich wahrzunehmen, anzuerkennen, wenn es nicht mehr “einfach so” weitergeht und zumindest diesen Zustand dann auch offen zu kommunizieren.
In meiner Situation habe ich meinem Team klar gesagt, dass ich in den nächsten Tagen nicht so präsent sein würde wie zuvor, und dass ich auf sie zähle. Diese Offenheit war kein Eingeständnis von Schwäche, sondern Ausdruck meines Zutrauens in ihre Fähigkeiten. Aufgebaut hatten wir eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gemeinsam bereits in den Monaten zuvor. Es war also so etwas wie eine notwendige Einladung zum gemeinsamen Tragen der Verantwortung für die Aufgaben des Teams.
Wenn das System mitträgt
Resilienz in Organisationen zeigt sich nicht daran, dass keine Fehler oder Krisen auftreten. Das ist unmöglich. Resilienz zeigt sich daran, wie ein System auf Störungen reagiert und wie schnell und flexibel es sich anpasst. In meiner persönlichen Situation wurde diese Resilienz auf mehreren Ebenen sichtbar:
- Mein Chef reagierte sofort unterstützend. Ohne Nachfragen, ohne Bedingungen. Es ging einfach darum, da zu sein und zu entlasten wo möglich.
- Mein Team sprang ein. Aufgaben wurden flexibel umverteilt, ohne dass ich jeden Schritt detailliert erklären musste.
- Der Geschäftsführer öffnete sich selbst. Diese persönliche Geste der Selbstoffenbarung hatte eine starke Signalwirkung auf mich und prägte mich sehr.
Aus systemtheoretischer Sicht spricht man hier von “struktureller Kopplung”. Verschiedene Subsysteme wie Teams, Führungskräfte und Geschäftsleitung sind so miteinander verbunden, dass Energie in Form von Ressourcen, Aufmerksamkeit oder Unterstützung schnell und zielgerichtet fließen kann. Voraussetzung dafür ist eine klare Struktur, in der Rollen, Verantwortungen und Erwartungen transparent sind.
Die entscheidende Frage lautet also, wie viel Redundanz für Menschlichkeit das System erlaubt. Und noch wichtiger ist, ob die notwendige Klarheit vor Krisen geschaffen wurde, damit Unterstützung nicht erst im Ausnahmefall improvisiert, sondern systematisch möglich wird. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann das ganze System flexibel reagieren, Belastungen auffangen und gemeinsam gestärkt daraus hervorgehen.
Angstfreiheit oder Kultur der Offenheit?
Für mich war es selbstverständlich, mich in meiner Krise zu öffnen. Ich hatte keine Angst davor. Doch das erlebe ich nicht als Selbstverständlichkeit, sondern nehme es eher als Ausnahme wahr. Manche Menschen sind so sozialisiert, dass sie eigene Krisen als persönliches Versagen oder Schwäche sehen. In vielen Arbeitsumgebungen wird Offenheit über private Schwierigkeiten als Risiko wahrgenommen, als etwas, das den beruflichen Status und die Glaubwürdigkeit gefährden könnte und in manchen Arbeitsumgebungen ist es auch genau das.
Man könnte annehmen, dass es sich hierbei um individuelle Einstellungen und Probleme handelt. Allerdings geht das etwas weiter. Sie sind oft tief in der Unternehmenskultur verankert. Offenheit ist systemisch bedingt nicht nur eine persönliche Entscheidung. Systemtheoretisch betrachtet folgt Kommunikation in sozialen Systemen bestimmten Erwartungen und Regeln. Wenn in einem Unternehmen nie über Belastungen gesprochen wird, dann liegt das nicht daran, dass keine vorhanden sind. Vielmehr traut sich niemand, sie sichtbar zu machen. Es entsteht so etwas wie eine “Kultur des Schweigens”. Das Problem dabei ist, dass hierdurch wichtige Informationen ausblendet und die Entwicklung von Resilienz im Team oder der Organisation massiv gehemmt wird.
Eine solche “Kultur der Angst” verhindert, dass Menschen das notwendige emotionale Sicherheitsgefühl entwickeln, das Voraussetzung dafür ist, dass Mitarbeitende sich verletzlich zeigen und Unterstützung annehmen können. Ohne dieses Sicherheitsgefühl bleibt jeder Einzelne mit Belastungen allein und auf sich gestellt. Und das belastet eben nicht nur die Person, sondern das ganze System.
Mein Appell lautet deshalb: Wagt den Schritt zur Offenheit, auch wenn es schwerfällt und mögliche Sorgen das verhindern. Dabei muss nicht alles im Detail offengelegt werden. Nicht alles geht die Menschen in der Organisation etwas an und was man teilen möchte, das liegt ganz bei einem selbst. Wichtig ist vor allem, dass die Menschen wissen, dass etwas möglicherweise anders ist und wie alle darauf reagieren können oder sollten. Teilt also das, was relevant ist, damit das Umfeld wahrnehmen und unterstützen kann. Der Nebeneffekt ist, dass deutlich wird, dass auch Führungskräfte menschlich sind und Schwäche kein Makel, sondern eine Chance für echtes Miteinander darstellt.
Die Kunst, nicht alles zu wissen
Persönliche Krisen machen uns verletzlich. Genau das öffnet gleichzeitig den Raum für eine andere, vielleicht sogar für eine tiefere Art von Führung. In meiner Situation hatte ich weiterhin die gleiche Verantwortung in meiner Rolle, ich musste weiter Entscheidungen treffen, während ich innerlich alles andere als stabil war und mich nicht immer gut fokussieren konnte. Also hieß es für mich, noch mehr zu delegieren, anderen mehr zuzutrauen und einige Dinge loszulassen.
In der Komplexitätstheorie gibt es den Begriff des “Probehandelns”. In anderen Kontexten wird dann oft von Experimenten gesprochen. Damit ist gemeint, dass es in unsicheren, mehrdeutigen Situationen sinnvoller ist, kleine Schritte zu wagen, Feedback zu sammeln und das Vorgehen fortlaufend anzupassen, statt auf einen perfekten großen Masterplan zu warten, der oft gar nicht existiert und der sich auch nicht entwickeln lässt. Führung in der Krise bedeutet, genau diesen Modus zuzulassen. Das gilt für individuelle Krisen, die auch Auswirkungen auf das System haben ebenso, wie für größere Krisen für und in Organisationen.
Führung in persönlichen Krisen heißt, sich nicht als unfehlbaren starken Experten zu inszenieren, sondern vielmehr als Raumhalter für Stabilität, offene Kommunikation und gegenseitiges Zutrauen zu handeln. Diese Haltung und Handlungen schaffen Raum für Kreativität und Resilienz im Team und sind damit auch eine wichtige Grundlage für eine bessere Bewältigung von Unsicherheit.
Die Rolle der Organisation
In meinem Fall war es nicht eine Abteilung wie HR, die mich bei der Arbeit aufgefangen hat. Es waren die Menschen in meinem direkten Umfeld. Mein direkter Vorgesetzter, mein Team, der Geschäftsführer. Psychosoziale Sicherheit entsteht nicht automatisch durch formale Strukturen. Sie entsteht durch Beziehung und die Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu übernehmen.
Wenn es keine explizite Instanz für Fürsorge gibt, wer ist dann zuständig? Ist es nur die direkt vorgesetzte Person? Und was braucht es, damit Unterstützung nicht vom Zufall oder vom persönlichen Charakter einzelner abhängt? Organisationale Verantwortung heißt in diesem Zusammenhang, Fürsorge zu institutionalisieren. Es bedeutet:
- Räume zu schaffen, in denen über Belastung gesprochen werden kann, ohne Angst vor Reputationsverlust.
- Rollen klar zu benennen, die in akuten Krisen begleiten, vermitteln oder verlässlich unterstützen. Zum Beispiel Führungskräfte, es können aber auch andere Personen sein.
- Maßnahmen wie Supervision, Coaching oder kollegiale Beratung nicht als Extra, sondern als Teil der Organisationsarchitektur fest zu verankern.
Eine Organisation ist mehr als die Summe von Abteilungen. Organisationen sind Netzwerke aus Kommunikation, Erwartungen und Entscheidungen. Die Frage ist also nicht, wer formal zuständig ist, sondern wo die strukturellen Bedingungen zu finden sind, die Fürsorge ermöglichen.
Gerade in kleineren oder wachstumsstarken Organisationen braucht es hier eine bewusste Gestaltung. Denn ohne institutionalisierte Fürsorge verlagert sich Verantwortung ins Private, auf einzelne Führungskräfte, auf implizite Netzwerke. Das kann funktionieren, solange alles gut läuft. Aber wollen wir erst in Krisen prüfen, wie resilient Menschen und Organisation tatsächlich sind?
Was du und dein Umfeld tun können
Krisen zeigen, wie tragfähig Systeme wirklich sind. Damit sie nicht zur Zerreißprobe werden, sondern zum Ausgangspunkt für mehr Verbundenheit und Resilienz, braucht es Klarheit über Verantwortung, Haltung und Handlungsmöglichkeiten. Hier drei Perspektiven für Betroffene, ihr Umfeld und die Organisation als Ganzes:
Für Führungskräfte in der Krise:
- Äußere dich früh. Warte nicht, bis du innerlich am Limit bist. Wer früh teilt, macht es anderen leichter zu helfen.
- Sei klar in dem, was du brauchst. “Ich brauche zwei Tage für mich” ist ein Zeichen von Selbstkontakt, nicht von Schwäche.
- Hab Zutrauen in dein Team. Menschen wachsen an Verantwortung, auch wenn du ihnen zutraust, dich in deiner Krise mitzutragen.
- Reduziere dich nicht auf deine Funktion. Du bist nicht nur Führungskraft, du bist Mensch und Teil des Systems und das darf sichtbar sein.
- Hol dir professionelle Begleitung. Coaching, Supervision oder Therapie sind keine Zeichen von Scheitern. Sich selbst um Hilfe kümmern ist ein Zeichen von Reife.
Für Kolleg:innen und Mitarbeitende von Menschen in Krisen:
- Frag aktiv und konkret: “Was kann ich übernehmen?” statt “Sag einfach, wenn du was brauchst”.
- Zeige Präsenz, ohne Druck zu machen. Zuhören hilft häufig mehr, als gut gemeinte Lösungsvorschläge.
- Sprecht offen über Aufgabenverteilung. Klare Abstimmung nimmt Unsicherheit und stärkt das Teamgefühl.
- Vermeide Spekulation. Wer Informationen braucht, soll fragen und nicht mutmaßen.
- Bleib professionell und menschlich zugleich. Empathie und Klarheit schließen sich nicht aus. Auch die Personen in der Krise müssen weiter wissen, was von ihnen erwartet wird.
Für Unternehmen:
- Baut Redundanzen auf. Nicht alles darf an einer Person hängen, auch nicht bei Führung.
- Verankert Reflexionsräume. Teams brauchen mehr als einzelne Retrospektiven. Sie brauchen Räume für emotionale Lagebesprechungen.
- Stärkt HR und Führung gleichermaßen. Beide brauchen klare Rollen, Ressourcen und Schutzräume.
- Institutionalisiert Fürsorge. Supervision, Coaching oder Krisenbegleitung dürfen keine schwer erreichbaren Einzelfälle sein.
- Seid Vorbilder auf allen Ebenen. Wenn Geschäftsführung Offenheit zeigt, schafft das Sicherheit im ganzen System.
Reflexion für dich
- Wie viel Vertrauen hast du in deinem beruflichen Umfeld?
- Wie würdest du reagieren, wenn jemand aus deinem Team in einer Krise steckt?
- Welche Unterstützung wünschst du dir selbst, wenn du ins Wanken gerätst?
- Wo in deinem Unternehmen fehlt der Raum für Menschlichkeit und wo findest du ihn?
- Welche Strukturen tragen und welche verhindern echte Resilienz?
Führung trotz eigener Krise heißt nicht, möglichst perfekt weiter zu funktionieren. Sondern mit begrenzten (eigenen) Ressourcen klug umzugehen. Sich selbst zu kennen, Verantwortung zu teilen, anderen Führung zutrauen und Unklarheit auszuhalten. Es geht nicht darum, immer stark zu sein. Sondern darum, die eigene Verletzlichkeit so zu steuern, dass Beziehung, Vertrauen und Handlungsfähigkeit erhalten bleiben.
Was Organisationen heute brauchen, sind keine Helden und Heldinnen, sondern reflektierte Menschen, die nicht jede Antwort kennen wollen und lieber die richtigen Fragen stellen. Die erkennen, dass nicht die eigene Kontrolle ein System stabil hält, sondern die Fähigkeit zur Kommunikation, gerade auch in Spannungsfeldern. Genau da entsteht Zukunftsfähigkeit: Wo Unsicherheit nicht verdrängt, sondern gemeinsam gestaltet wird.
(Das Bild ist mit Chat GPT generiert.)