Empathie gilt als die Krone moderner Führung. Wer sie besitzt, gilt als menschlich, wer sie nicht hat, als ungeeignet als Führungskraft. Kaum ein Buch, Blog-Beitrag und Leadership-Training, das nicht predigt: „Sei empathisch!“. Doch was, wenn genau das krank macht?
Das gilt besonders für Führungskräfte, die täglich mit der Stimmung, den Sorgen und der Überforderung anderer konfrontiert sind und diese nicht mehr loswerden. Um so wichtiger ist es, sich in Zeiten mit ständigem Wandel und Polykrisen damit auseinanderzusetzen.
Wenn Fühlen zur Erschöpfung wird
In meiner Arbeit begegne ich häufig einem Phänomen, das selten offen angesprochen wird: Führungskräfte spüren zu viel. In Videocalls, Slack-Chats oder Teamgesprächen nehmen sie jede Schwingung auf. Die Müdigkeit, die Unsicherheit, die unausgesprochene Kritik. Empathisch zu sein bedeutet, Resonanzkörper zu werden. Doch wer ständig mitschwingt, ohne sich auch wieder entladen zu können, wird irgendwann selbst leer.
Das Job-Demands-Resources-Modell von Bakker und Demerouti beschreibt genau das. Ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen (Job Demands) und den verfügbaren Ressourcen (Job Resources) entsteht, wenn Mitfühlen zur Daueraufgabe wird, aber Handlungsspielraum, Zeit oder Unterstützung fehlen. Ist das der Fall, steigt das Risiko für emotionale Erschöpfung und, damit für Burnout, dramatisch an.
Psychologen sprechen dann von Mitgefühlsmüdigkeit (Compassion Fatigue). Wer anderen dauerhaft helfen will, ohne sich selbst zu schützen, brennt nicht trotz, sondern wegen seiner Empathie aus.
Fühlen ohne Handeln
Bei allem Rufen nach empathischer Führung ist mit wichtig zu betonen: Empathische Führung bedeutet nicht automatisch wirksame Führung.
Ich erlebe immer wieder, dass ich und andere Führungskräfte oft in paradoxe Situationen geraten. Wir spüren, dass Menschen in unserem Umfeld leiden und wissen gleichzeitig, dass wir strukturell wenig verändern können, um diesem Leid zu begegnen. Der Wunsch zu helfen kollidiert mit Systemgrenzen, mit Zielvorgaben, Zeitdruck, Budgetrahmen. Das erzeugt ein Spannungsfeld, in dem das Fühlen zur Ohnmacht wird.
In Organisationen ist Empathie oft zum moralischen Imperativ geworden: „Führungskräfte müssen verstehen, müssen zuhören, müssen sich kümmern.“ Aber kaum jemand spricht darüber, was sie das kostet.
Ausweg: Aktiv ins Handeln kommen
Diesen ohnmächtigen Zustand der Hilflosigkeit zu erkennen, ist der erste Schritt um sich davor zu schützen. Längst ist bekannt, dass aktives Handeln ein zentraler Faktor für psychische Resilienz ist. Wer in Krisen ins Handeln kommt, wirkt dem (eigenen) Gefühl von Ohnmacht und lähmender Angst aktiv entgegen.
Dabei geht es nicht darum, jedes Problem zu lösen, sondern die eigene Handlungsfähigkeit bewusst wahrzunehmen. Das Verlassen der passiven Opferrolle und das Annehmen von Unterstützung oder das Finden kleiner, konkreter Schritte ins Handeln hinein, stärken das psychische Wohlbefinden deutlich. Um so wichtiger ist es auch im Kontext von Empathie, eigene Handlungsfähigkeit wahrzunehmen.
Selbstwirksamkeit als Schutzschild
Dabei zeigt weitere psychologische Forschung, dass die Überzeugung, Selbstwirksam zu sein, ein essenzieller Schutzfaktor ist. Bei der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen handelt es sich um das (Selbst-) Vertrauen, Probleme aus eigener Kraft bewältigen zu können, selbst wenn die äußeren Umstände schwierig sind.
Ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit schützt Menschen vor depressiven und ängstlichen Symptomen. Als Führungskraft ist man daher nicht nur der Resonanzkörper, sondern vor allem so etwas wie ein Wegweiser. Es geht darum, sich selbst das Vertrauen zu bewahren und zu kultivieren, dass Handeln (egal wie klein) möglich ist. Nicht umsonst ist eine Empfehlung von Psychologen, in lähmenden Krisenzeiten, aktiv zu bleiben, sich zu informieren, sich auszutauschen und kleine Schritte ins Handeln zu machen.
Was ich gelernt habe
Es gibt unterschiedliche Ausrichtungen bei Mediations-Ausbildungen. Meine Ausbildung bei Zweisicht folgte im Kern der Idee, dass sich im Konflikt stehende Personen auf der Ebene für beide nachvollziehbarer Gefühle und hinter Konflikten stehenden Bedürfnissen begegnen. Hierbei spielte Empathie für die Konfliktparteien, aber insbesondere auch für die mediierende Person eine größere Rolle. Wir haben uns intensiv mit Empathie, Mitgefühl und Mitleid beschäftigt, und mit den feinen, aber entscheidenden Unterschieden. Damals wurde mir klar, warum Empathie so leicht zur Falle werden kann:
- Empathie bedeutet, sich in die Welt eines anderen einzufühlen.
- Mitgefühl geht einen Schritt weiter. Es fügt die Bereitschaft hinzu, das Wahrgenommene in einen wohlwollenden, handlungsorientierten Impuls zu verwandeln.
- Mitleid dagegen zieht uns in den Schmerz des anderen hinein. Wir fühlen mit, aber verlieren die Distanz. Und genau das macht müde.
In der Mediationsarbeit habe ich gelernt und vertieft, mich auf Menschen einzulassen, ohne dich in ihnen zu verlieren. Gelingt das, dann spürt man die Emotionen anderer, aber bleibst dennoch bei sich und handlungsfähig. Das ist keine Kälte, sondern professionelle Präsenz.
Genau hier liegt eine wichtige Fähigkeit gesunder Führung. Es geht darum, eben nicht alles zu fühlen, was andere fühlen, sondern zu verstehen, was das Gefühl im System bedeutet und handlungsfähig zu bleiben.
Ein emotionales Ökosystem: Empathie, Mitgefühl und Ekpathie
Wissenschaftlich betrachtet ist „Empathie“ kein einheitlicher Begriff, sondern ein ganzes Spektrum emotionaler Reaktionen. Entscheidend für einen gesunden Umgang mit Menschen und für Menschen in Führungsrollen insbesondere ist, ob sie nur mitschwingen, oder ob sie auch gestalten und abgrenzen können.
- Empathie (Resonanz): Man nimmt die Emotionen anderer wahr und trägt sie in sich weiter. Ohne bewusste Regulation führt das irgendwann zur Überlastung.
- Mitgefühl (Transformation): Mitgefühl bedeutet, die Emotionen anderer zu verstehen und in einen aktiven, wohlwollenden Impuls zu verwandeln. Tania Singer (wissenschaftliche Leiterin der Forschungsgruppe Soziale Neurowissenschaften der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin) spricht von einer „transformierten Empathie“, die weniger erschöpft, weil sie auf Handlungsfähigkeit statt Mitleiden basiert.
- Ekpathie (Abgrenzung): Der Philosoph Wilhelm Schmid prägte den Begriff als Gegenstück zur Empathie. Er beschreibt die Fähigkeit, sich bewusst von den Gefühlen anderer zu distanzieren, ohne gleichgültig zu werden. Ekpathie schützt, weil sie erlaubt, präsent zu bleiben, ohne sich in den Gefühlen anderer aufzulösen.
Die Forschung von Tania Singer zeigt, dass Führungskräfte signifikant geringere Burnout-Werte zeigen, die bewusst zwischen diesen Zuständen wechseln. Man könnte auch sagen, dass nicht mehr Empathie gute Führung ausmacht, sondern eine kluge Balance zwischen Resonanz, Mitgefühl und Abgrenzung.
Ein Blick in die Praxis
Stell dir vor, du führst ein Team, das seit Monaten unter hoher Belastung steht. Du spürst die Müdigkeit in jedem Meeting. Du hörst zu, vermittelst Verständnis, suchst Lösungen, aber dein Handlungsspielraum ist beschränkt. Du stehst selbst unter Druck und musst Vorgaben und strategische Ausrichtung des Unternehmens erfüllen. Du bist in jedem Termin mit deinen Mitarbeitenden empathisch und trotzdem bleibt das Gefühl, nicht genug zu tun.
Jede Woche dasselbe Muster. Du nimmst auf, was andere nicht tragen können. Irgendwann fragst du dich, warum du abends erschöpft bist, obwohl du „nur zugehört“ hast. Genau hier beginnt Mitgefühlsmüdigkeit. Sie kommt leise und unaufhaltsam, wenn die Ekpathie fehlt.
Ekpathie als Skill
Die Kunst liegt nicht darin, weniger zu fühlen, sondern bewusster damit umzugehen. Hier ein paar Impulse, die helfen können Ekpathie zu trainieren, um sich selbst vor Mitgefühlsmüdigkeit zu schützen.
Was man selbst für sich tun kann
- Ekpathie trainieren: Nach intensiven Gesprächen bewusst trennen: „Was gehört zu mir, was nehme ich an und auf und was bleibt beim Gegenüber?“
- Self-Compassion kultivieren: Mitgefühl mit anderen beginnt bei dir selbst. Studien zeigen: Wer sich selbst Verständnis zugesteht, kann Empathie nachhaltiger leben.
- Rollengrenzen klären: Definiere klar, wo deine Verantwortung endet. Nicht jedes Problem deines Teams ist deines und das ist kein Mangel an Fürsorge, sondern professionelle Klarheit und das Überlassen von Verantwortung.
- Mentale Tore schließen: Rituale helfen, emotionale Übergänge zu gestalten. Der Spaziergang nach Feierabend, das bewusste „Check-out“-Signal. Das sind kleine Handlungen mit großer Wirkung.
- Supervision nicht erst im Notfall nutzen: In Führung sollte regelmäßige Reflexion Standard sein. Sie wirkt nachweislich präventiv gegen Burnout. Das geht über Supervision oder auch über kollegiale Fallberatung (oder einfach nur ein entsprechendes Gespräch unter Kolleg:innen).
Impulse für Organisationen
Empathische Führung braucht nicht nur Menschen, die empathisch handeln und mit ihrer Empathie gut umgehen können, sondern auch Strukturen, die sie tragen.
- Ressourcen schaffen: Zeit, Handlungsspielräume und Unterstützung sind keine Luxusgüter, sondern Burnout-Prävention.
- Grenzen anerkennen: Eine Kultur, die Grenzen als Stärke sieht, schützt die psychische Gesundheit.
- Raum für Dialog etablieren: Führung darf über Überforderung sprechen, ohne Stigmatisierung.
- Reflexion systematisch einführen: Reflexion gehört institutionalisiert, nicht individualisiert.
- Feedback erweitern: Emotionale Belastung ist ein Organisationssignal, kein persönliches Versagen.
Persönliches Fazit
Empathie ist kein grenzenloses Gut. Sie ist eine Ressource und wer sie klug einsetzt, schützt nicht nur andere, sondern auch sich selbst. Führung im hier und jetzt und in der Zukunft beinhaltet emotional präsent zu bleiben, ohne dabei in den Gefühlen Anderer zu ertrinken.
Wo liegen in deinem Alltag die größten Hürden, in deinem persönlichen Umgang mit Abgrenzung oder in den strukturellen Bedingungen deiner Organisation? Wenn du magst, lass uns gerne darüber sprechen.
Empathie ist kein Allheilmittel, sie ist ein Wirkstoff. Und wie jeder Wirkstoff wirkt sie nur, wenn man die Dosis kennt und Ekpathie als Schutzschild etabliert.
(Das Bild ist mit Perplexity generiert.)