Es gibt Begriffe, die klingen wie Wellness für die mehr oder weniger geschundene Managerseele. „Psychologische Sicherheit“ ist so einer. Kaum ein Buch zu Führung, ein Blog-Beitrag zu Agilität oder Organisationen und kaum ein Leadership-Training, in dem sie fehlt. Die wenigsten Führungskräfte wagen es, dieses heilige Konzept auf den Prüfstand zu stellen. Es klingt ja auch zu gut. Einesanfte Umarmung fürs Team, eine Garantie für Offenheit und Innovation. Schließlich ist es „wissenschaftlich bewiesen“, dass sich die Menschen mehr trauen, die sich sicher fühlen.
Aus der differenzierten Forschungsarbeit von Amy Edmondson wurde so schnell eine Management-Religion. Eine Heilslehre mit Wohlfühlversprechen. Eine der großen Lösungen neben Agilität und New Work, Purpose und Feedbackkultur. Ich halte es für wichtig, dieses vermeintliche Heil etwas kritischer zu betrachten.
Meine Beobachtung ist, dass psychologische Sicherheit nicht das Ziel, sondern das fragile Ergebnis kluger Organisationsgestaltung ist. Ein pauschales Rufen nach „mehr (psychologischer) Sicherheit“ kollidiert fast immer mit der gelebten Realität. Es degradiert das Konzept zu einem Appell, der mühsame systemische Veränderung ersetzt und damit echtem Wandel im Weg steht.
Von Korrelation zu Dogma
Zahlreiche Studien bestätigen eine Korrelation zwischen gefühlter Sicherheit und Teamleistung. Das ist unbestritten. Doch kritische Meta-Analysen, wie die von Newman, Donohue und Eva aus dem Jahr, 2017, zeigen, dass psychologische Sicherheit weniger Ursache als Folge stabiler, leistungsfähiger Prozesse ist. Sie ist damit ein Emergenzphänomen. Ein kommunikatives Klima, das entsteht, wenn bestimmte Organisationsmechanismen greifen.
Und damit beginnt es nicht mit einem Appell, sondern mit der Architektur der Organisation.
- Klare Rollen und Verantwortlichkeiten: Sie reduzieren Unsicherheit im Handeln.
- Transparente Entscheidungswege: Sie machen Macht logisch nachvollziehbar und berechenbar.
- Verlässliche Feedback- und Lernkultur: Sie bieten Resonanz statt nur Urteile.
Wenn diese Grundlagen stimmen, nehmen mehr Menschen Sicherheit für sich wahr. Die Umkehrung dieser Logik, also der Appell „Sei offen und ehrlich!“, schafft jedoch keine Strukturen. Ein solcher Appell erzeugt bestenfalls die Sehnsucht danach. Wir verwechseln Ursache und Wirkung. Das ist die gefährlichste Kausalitätsumkehr im modernen Management.
Wahrnehmung und Machtaspekte
Bei Sicherheit reden über ein Gefühl, nicht über einen objektiv messbaren Zustand. Psychologische Sicherheit ist ein intersubjektives Wahrnehmungskonstrukt (zum Buch von Berger & Luckmann aus dem Jahr 1966). Deshalb variiert sie stark. Was für den etablierten Projektleiter sicher wirkt, kann für die neue Mitarbeiterin oder Angehörige einer Minderheit hochriskant sein. Organisationen sind selten egalitär. Die Sicherheit ist nie für alle gleich.
Gerade in hierarchischen Systemen verhindern Machtasymmetrien oft, dass Marginalisierte diese Sicherheit empfinden können, selbst wenn sie formal zugesprochen wird (Edmondson, 2018). Wer die Debatte führt, ohne diese Machtstrukturen zu thematisieren, verfällt in einen bequemen Universalismus, der ungleiche Realitäten ignoriert.
Das Paradox der Sicherheit
Niklas Luhmann beschreibt Organisationen als selbstreferenzielle Kommunikationssysteme. Ihr oberstes Ziel ist Stabilität und Handlungsfähigkeit. Sie reproduzieren Routinen, die Irritationen, also Störungen, die wir für Wandel bräuchten, abwehren. Das ist kein Versagen, sondern ihre Überlebenslogik. Wir merken das täglich. Der IT ist etwas „zu unsicher“, HR sagt „nicht tarifkonform“ und der Vertrieb ist sich sicher, „das machen wir hier nicht“.
Mut braucht Risiko, nicht Sicherheit
Dann müssen wir auch über den Mut sprechen, der durch diese Wohlfühl-Kultur vermeintlich erzeugt werden soll. Mut bedeutet, trotz Unsicherheit zu handeln. Mut ist keine Gruppenvorgabe, sondern eine individuelle Entscheidung unter Risiko.
Ich beobachte, dass Menschen, die teilweise Großes leisten, beispielsweise Whistleblower oder Gründer disruptiver Startups, nicht handeln, weil sie sich sicher fühlen. Sie handeln, obwohl sie es nicht tun.
Mut entsteht gegen die Unsicherheit, nicht dank ihrer Abwesenheit. Wer also glaubt, durch mehr (psychologische) Sicherheit automatisch mehr Mut zu erzeugen, verwechselt Komfort mit Courage.
Die Appellfalle: Soziale Kontrolle
Und dann kommt die Kultur, die sich auf Appelle stützt. Sie fordert Mut und ignoriert dabei die systemischen Barrieren. Dabei entsteht eine Spannung zwischen formalen Erwartungen „Sei offen! Fehler sind erlaubt!“ und sozialem Druck konform zu handeln aus Angst vor Sanktionen. Organisationen reagieren darauf mit defensiven Routinen, wie Argyris es 1991 nannte. Das System schützt seine Struktur. Der Appell an das Individuum wird zur Illusion.
Und hier beginnt die Paradoxie. Je höher das normative Sicherheitsgebot wird, desto größer kann der Anpassungsdruck werden. Sicherheit wird so nach Luhmann in ein soziales Kontrollinstrument verwandelt, das Vielfalt und kritische Irritation unterdrückt. Im Ergebnis führt dann mehr Sicherheit paradoxerweise zu weniger Offenheit und weniger Mut. Groupthink lässt grüßen.
Führung als Architektur statt Emotionalisierung
Hier liegt für mich der Kern. Es ist keine wesentliche Aufgabe von Führung, das Wohlfühlen der Menschen zu managen und Appelle an Emotionen zu richten nach dem Motto „fühle dich sicher“ oder „hier müssen sich alle sicher fühlen“. Die vorrangige Aufgabe von Führung ist, Architekt und Gestalter komplexer sozialer Systeme zu sein.
Wer führt, muss eine zentrale Erkenntnis der Systemtheorie verinnerlichen. Nach Luhmann sind Organisationen selbstreferenzielle Kommunikationssysteme. Ihre Stabilität und Anpassungsfähigkeit entsteht aus der Balance zwischen Wiederholung und Irritation. Führung muss diese Balance mit Struktur (und dessen Gestaltung) steuern, statt mit weichgespülten emotionalen Aufrufen die Menschen selbst zu adressieren. Und das ist weit entfernt vom Instagram-Motivationspostern an Wänden.
Der Architekt schafft Sinnordnungen
Aus soziologischer Sicht schafft Führung keine bloßen Prozesse, sondern Sinnordnungen. Sie gestaltet den symbolischen Rahmen, innerhalb dessen Handlungen Sinn ergeben. Diese Sinnordnungen stabilisieren soziale Realität und geben Orientierung. Wer Führung auf diffuse Appelle an „mehr Mut“ reduziert, ignoriert diese tiefere Sinnstruktur.
Führung muss als Systemgestalter mit der Architektur des Unternehmens Rahmen setzen und damit die Unternehmensrealität gestalten. Sie muss Rollen, Erwartungen und Entscheidungswege klären, sinnvolle Kommunikation ermöglichen und Erwartungssicherheit schaffen. Vertrauen und psychologische Sicherheit entstehen dann nicht als Gefühlszustand, sondern als verstandene soziale Ordnung.
Ambiguitätstoleranz als Kernleistung
Dabei schafft Führung das Gegenteil von Wohlfühlzonen. Sie erzeugt Räume, in denen Mehrdeutigkeiten offenbleiben dürfen und aus denen kreative Spannungen entstehen. Die psychologische Kernleistung von Führung ist daher Ambiguitätstoleranz. Die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Unsicherheit auszuhalten und zu steuern, ist entscheidend, wenn man Veränderung ermöglichen will.
Das widerspricht der Illusion, Führung müsse Sicherheit durch klare Antworten schaffen. Die Kernleistung ist gerade die Ermöglichung ergebnisoffener Prozesse.
Systemische Differenzierung statt Harmonie
Führung ist keine Gefühlsverwalterin. Emotionen sind hochkomplex. Der Job von Führung ist es nicht, Harmonie zu verordnen und zu gewährleisten, sondern die soziale Energie im Team zu modulieren. Das bedeutet, dass wir die Differenzen und Widersprüche im System fördern müssen, um uns vor simplen und falschen Antworten zu schützen. Das bedeutet:
- Konflikte und Spannungen werden nicht unterdrückt, sondern strukturiert kanalisiert.
- Führung betreibt Meta-Kommunikation. Sie spricht über die Kommunikationsbedingungen, Konflikte und Erwartungshaltungen, um zum Beispiel in einer Matrix Mehrfachzugehörigkeiten (Team vs. Abteilung) handhabbar zu machen.
Emotionale Harmonie ist dann nicht das Ziel, sondern das Nebenprodukt differenzierter sozialer Ordnungen. Führung bedeutet damit immer auch, Spannungen auszuhalten und soziale Komplexität zu managen, statt sie durch emotionalisierte Slogans zu verdünnen.
Resilienz durch strukturelle Kopplung
Organisationen werden resilient, wenn sie Irritationen aus ihrer Umwelt aufnehmen und verarbeiten können, ohne ihre Identität zu verlieren. Das ist die strukturelle Kopplungsfähigkeit.
Führung wählt aus, welche neuen Ideen oder Probleme von außen ins Unternehmen dürfen und welche internen Abläufe angepasst werden müssen. Das stellt Kopplung sicher. Wenn diese Steuerung sauber gemacht wird, entsteht von ganz alleine eine Umgebung, die das Gefühl von Sicherheit zulässt, allein weil wahrgenommen wird, dass das System funktioniert. Führung strebt damit (psychologische) Sicherheit nicht an, Sie ermöglicht sie durch kluge Entscheidungen
Wer Führung als Architekt praktiziert, gestaltet Kopplungsprozesse, keine emotionalen Wohlfühloasen.
Die Ökonomisierung der Gefühle
Führung als Architekt zu verstehen, deren Kernaufgabe das Gestalten von komplexen Strukturen ist, die Spannungen aushalten. Doch genau diese mühsame Arbeit wird heute oft umgangen. Man setzt auf den vermeintlich schnellen Weg, indem man über psychologisierende Appelle versucht, Probleme auf die Individualebene zu verlagern.
Damit verkommt psychologische Sicherheit in der Praxis zu einem reinen Effizienzhebel, einem Wolf im Schafspelz. Das emotionale Erleben der Mitarbeiter wird zur Ressource, die gemessen und optimiert werden soll. Das Wohlbefinden wird zum Produktionsfaktor, der die Leistung steigern soll. Das ist gefährlich.
Der Soziologe Hochschild zeigte früh, dass Gefühle in Organisationen schnell zur Ware werden. Ich beobachte, dass wir Mitarbeiter nicht mehr als Subjekte sehen. Sie werden zu Werkzeugen mit Emotionen, die im Sinne einer „sozialen Programmierung“ gezielt zu möglichst hoher Effektivität und Effizienz geformt werden sollen.
Genau hier verzerrt sich das Konzept der Sicherheit. Sobald die Aufforderung, „offen“ zu sein, nicht dem Schutz des Individuums, sondern der Optimierung der Teamleistung dient, wird sie instrumentalisiert. Das offene Wort verwandelt sich in die Erwartung, konforme, optimierbare Informationen geliefert zu bekommen.
Hier liegt die Gefahr einer emotionalen Industrialisierung. Die echten Gefühle, die auch wütend, unfair und laut sein können, werden gegen „ergonomische“ Emotionen ausgetauscht. Der Druck, stets positiv zu wirken, führt zu einer Beschönigung der Lage, die reale Konflikte nur verdrängt. Die Harmonie ist dann nur noch Fassade.
Die Frage für Führung in Organisationen, in denen der Wert und Nutzen psychologischer Sicherheit auf ein besonders hohes Podest gehoben wird (aber auch für alle anderen) muss lauten: Welchen Preis zahlen wir für unsere innere Freiheit, wenn Gefühle nur noch als Rohstoff und nicht als Ausdruck eines autonomen Selbst verstanden werden?
Weniger Heldengeschichten, mehr Systemarbeit
Psychologische Sicherheit ist wertvoll, doch sie ist Ergebnis und nicht Ursache. Mut bleibt individueller Akt, der Systemresonanz braucht und nie garantiert werden kann. Wer Organisationen wirklich verändern will, muss aufhören, Mut zu predigen und psychologische Sicherheit magisch zu verklären. Stattdessen gilt es, die Architektur der Organisation so zu entwerfen, dass Mut möglich, Irritationen handhabbar und Neues anschlussfähig wird.
Organisationen brauchen keine Heldengeschichten, sondern robuste, transparente Strukturen, die „ganz normalen“ Menschen ermöglichen, ihre Arbeit zu machen und dabei vielleicht auch mal Großes zu leisten.
Wo in deinem Verantwortungsbereich kannst du den nächsten strukturellen Freiraum schaffen, anstatt den nächsten („fühlt euch sicher“) Appell zu senden? Ich freue mich auf deine Perspektive zu diesem Thema.
(Das Bild ist mit Perplexity generiert.)