Musik begleitet mich, seit ich denken kann. Sie war immer mehr als Radio, sie war Ausdruck, Reibung, Befreiung. Und vielleicht ist das ein Grund, warum mich auch Themen wie Organisationen, Führung und Zusammenarbeit so faszinieren. Weil sie wie Musik lebendig, widersprüchlich und voller Spannungen sind. In der Musik suchen wir nicht nur Harmonie, sondern Tiefe. In Organisationen ist es nicht anders. Hier teile ich ein paar Gedanken, warum wir in lebendigen Systemen nicht nur das Gleichgewicht brauchen, sondern auch den Bruch, das Schräge, das Unfertige, all das, was uns berührt.
Schönheit entsteht nicht im perfekten Einklang. Schönheit entsteht im Riss. Im Bruch. Im leisen Zittern der Disharmonie, das uns berührt, weil es mehr ist als ein reines, glattes Bild. Und warum brauchen wir auch in Organisationen Disharmonie, Asymmetrie, Spannung und Reibung?
Wenn das Schöne kratzt und schreit
Wir alle lieben Symmetrie. Unser Gehirn ist darauf programmiert, sie zu mögen. Symmetrische Gesichter wirken auf uns attraktiver, gesunde Körper erscheinen verlässlicher, harmonische Stimmen klingen beruhigend. All das vermittelt Sicherheit, Ordnung und Stabilität und spricht damit Bedürfnisse an, die tief in uns verankert sind.
Echte Schönheit hingegen – die, die hängen bleibt, die nachwirkt – entsteht oft erst, wenn diese perfekte Ordnung einen Bruch, einen Riss oder eine Delle bekommt. Wenn etwas nicht ganz aufgeht. Wenn etwas mit den Regeln der Symmetrie bricht. Wenn eine Spannung spürbar wird, die unsere anderen Bedürfnisse nach Tiefe, nach Individualität und Echtheit ansprechen. Wenn Disharmonie dabei nicht völlig zerstört, sondern Fragen aufwirft und neue Räume öffnet.
In der Musik erleben wir die Kraft der Disharmonie vielleicht am unmittelbarsten. Harmonien beruhigen uns. Aber es sind die Dissonanzen, die uns tiefer erreichen, ergreifen und auf Entdeckungsreisen mitnehmen.
Das Spiel mit der Reibung
Hör Dir Beethovens späte Streichquartette an. Sie sind nicht nur „schön“ im klassischen Sinn. Sie sind wild, melancholisch, brüchig und gerade deshalb ergreifend. Beethoven bricht immer wieder die Erwartungen der Zuhörenden. Kontinuierlich sauber und immerzu eingängig konsumierbar ist das Klangbild nicht, dafür intensiv und manchmal auch mit schmerzhaften Momenten für harmonieliebende Ohren.
Bekannt für das Spiel mit Disharmonien ist vor allem der Jazz. Miles Davis sagte einmal: „It’s not the notes you play, it’s the notes you don’t play.“ Jazz lebt vom bewussten Verzicht auf glatte Symmetrie. Der Jazz lebt von dieser bewussten Disharmonie zum Beispiel durch sogenannte “Blue Notes” (leicht verstimmte Töne). Er lebt von Improvisation und dem bewussten Spiel mit Erwartungen. Unsaubere Töne, Improvisation, Reibung schaffen Musik, die vibriert, lebt und atmet. Dissonanz ist hier kein Fehler, sondern ein kreativer fester Bestandteil.
Billie Holiday ist eine der größten Stimmen des Jazz. Sie sang oft bewusst „daneben“. Ihre Stimme schwankte, rutschte weg. Das macht ihre Songs zu kleinen rauen Kunstwerken voller Schmerz und Hoffnung.
Disharmonie als Haltung
Die Welt des Rock, Metal, Punk und Hardcore bringt das noch viel direkter auf den Punkt. Punk entstand als Rebellion gegen die überproduzierte Perfektion des glatten und harmonischen Mainstreams. Bands wie die Sex Pistols oder The Clash spielten roh, oft technisch „unsauber“ und dabei mit einer Energie, die sie durch saubere Symmetrie niemals hätten erreichen können.
Auch Bands wie die Urväter des Metals, Black Sabbath, erfanden schwere, düstere Riffs, die oft bewusst mit disharmonischen Intervallen arbeiteten. Berühmt wurde ihr als „Teufelsintervall“ bezeichneter Tritonus, der Songs wie Black Sabbath oder N.I.B. durchzieht. Der Klang kratzt, bricht, zieht in dunkle Welten und wirkt genau deshalb mächtig.
Hardcore-Bands wie Minor Threat, Black Flag oder später Converge schufen Klangwelten, die roh, chaotisch und intensiv sind. Hier geht es nicht um Perfektion, sondern um die unverblümte, asymmetrische und rohe Wahrheit. Weit weniger brachial und gleichzeitig tief, zerrissen und mit der Brüchigkeit verbunden war da ein Leonard Cohen mit über 70 Jahren, der in seinem Song Anthem sang: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“
Diese Zeile ist mehr als nur ein schöner Text. Er singt über Risse, Unsauberkeiten, kleine Katastrophen nicht als Makel, sondern als Orte, in die echte Schönheit eindringen kann.
Rhythmus und Dissonanz
Der wahre Zauber von Musik mit disharmonischen Strukturen liegt in ihrer Fähigkeit, Rhythmus und Dissonanz zu einem einzigartigen in sich wieder stimmigen Erlebnis zu verweben. Eine Band wie Tool beispielsweise erzeugt Musik, die immer wieder unterlegt ist von vertrackten Rhythmen, die teilweise auch mit den Melodien brechen. Komplexe Taktwechsel, die sich immer wieder in Harmonie auflösen. Die musikalischen Rhythmusmonster dieser Band leben von einem einzigartigen Wechselspiel aus komplexen, asymmetrischen Taktarten gespielt von Danny Carey, gepaart mit treibenden Bassläufen, harten Gitarrenriffs und eindringlichem Gesang von Maynard Keenan. In Songs wie Schism oder Lateralus wird jede noch so kleine Dissonanz zu einem „Crack in the Sky“, der die Wahrnehmung herausfordert und gleichzeitig beflügelt.
Mastodon gehen in eine ähnliche Richtung, wenn sie in ihren epischen Tracks wie Oblivion und Crack the Skye Melodien mit abgehackten Rhythmen und atonalen Momenten kombinieren. Das gibt den Songs eine Energie, die immer dann spürbar wird, wenn der Sound nicht ganz zusammenfließt, sondern sich immer wieder auf neue, überraschende Weise entfaltet.
The Dillinger Escape Plan gehen noch einen Schritt weiter. Diese Band ist bekannt für ihre extremen Rhythmen, die zwischen chaotischen Taktarten und schroffem, fast brutalen Breakdowns wechseln. Die Musik von The Dillinger Escape Plan ist eine wahre Odyssee durch Disharmonie und Unordnung, die einen manchmal schockiert, dann sich aber immer wieder auch in Harmonie auflöst und dazu verführt, über den musikalischen Tellerrand hinaus zu denken.
People often think that punk rock is a revolt against something, but it’s really a revolt for something — a revolt for individuality, for self-expression.
Greg Graffin (Bad Religion)
Die Schönheit des Unfertigen
Auch in der Literatur finden wir eine Liebe zur Disharmonie, zum Beispiel bei manchen deutschen Schriftstellern, deren Werke bis heute von tiefen, oft schmerzhaften Widersprüchen leben.
Schön ist, was sich dem Schema entzieht.
Theodor W. Adorno
Franz Kafka mit seiner Erzählung „Die Verwandlung“ zeigt die Absurdität der menschlichen Existenz, in der ein Mensch sich in ein Ungeziefer verwandelt und dabei mit der Welt und sich selbst in tiefe Disharmonie gerät. Kafka führt uns in die dunklen Räume unserer Ängste und Identitätskrisen und bleibt uns eine harmonisch auflösende Antwort schuldig. Thomas Mann und sein Roman „Der Zauberberg“ veranschaulichen, wie die Spannung zwischen Tradition und Moderne, zwischen Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, immer wieder zu einer unlösbaren Disharmonie führt, so anziehend sie gleichzeitig wirkt.
Hermann Hesse in „Der Steppenwolf“ beschreibt die Zerrissenheit des modernen Menschen, der zwischen Gesellschaft und innerer Individualität hin- und hergerissen ist. Die Disharmonie seiner Existenz ist keine Last, sondern eine Quelle der Selbstfindung und Erneuerung. Und auch in Bertolt Brechts Theaterstücken geht es oft um die gezielte Unterbrechung der Symmetrie. Brecht selbst sagte einmal: „Die Wahrheit ist der Weg, den der Mensch gehen muss, um die Widersprüche in sich selbst und der Gesellschaft zu erkennen.“
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Friedrich Nietzsche
Rainer Maria Rilke beschreibt in seinen Gedichten oft die Schönheit des Zerfalls oder der Vergänglichkeit. Er schreibt dann nicht über die harmonische, glatte, perfekte Welt, sondern die fragile, gebrochene. Hier, wie in der Musik, ist Disharmonie keine aufzulösende oder abzustoßende Anomalie, sondern der Weg zu Veränderung, Aufbruch und tieferen Erkenntnissen.
Asymmetrie als Konzept
Die Mode ist eine weitere Kunstform, die immer wieder Asymmetrie und Disharmonie in ihre Struktur integriert, um Schönheit auf eine unkonventionelle Weise zu vermitteln. Mode, die aus den Grenzen der Symmetrie ausbricht ist in der Lage, einen weiten Raum für Ausdruck und Innovation zu schaffen, ganz unabhängig davon, wie gut es den einen gefällt, und den anderen nicht.
Die Verbindung aus Musik und Mode schaffen dann Künstlerinnen wie Vivian Westwood, die in den 70ern bekannt wurde durch die Erfindung der Punk-Mode und auch danach auf unterschiedlichste Weisen Mode gemacht hat, in der sie mit dem Gewohnten gebrochen hat.
Letztendlich ist häufig Asymmetrie oder Disharmonie in Kleidungsstücken genau der Teil, der auffällt und die Mode ausmacht. Wir alle kennen in Oberteilen dezentrierte Ausschnitte oder nur über eine Schulter laufende Träger. Oder wir sehen immer wieder Jeans mit „used look“ und zerrissenen Teilen, ungleichmäßige Saumlinien, nicht übereinstimmende Muster und mehr. Solche Kleidungsstücke erzeugen gerade durch ihre Unausgewogenheit ein Gefühl von Ausgeglichenheit und sorgen für Aufmerksamkeit.
Kunst im Aufbruch
Egal welche Kunstform man sich ansieht, gibt es immer die einen, die im Geist der Gegenwart harmonieorientiert den Status Quo wiederholt darstellen und andere, die ganz bewusst damit brechen und so Neues schaffen. Nehmen wir Picasso, dessen zerrissene Figuren teilweise farbenfroh Schmerz ausdrücken. Oder Van Gogh, der die Welt nicht einfach abgebildet, sondern verformt und teilweise seinen ganzen Schmerz in einzelne Pinselstriche überführt hat.
Friedensreich Hundertwasser ist bunt und ohne klare gerade Linien eher in geschwungen organischen Strukturen bei seinen Kunstwerken unterwegs. Dann gibt es beispielsweise einen Frank Gehry, dessen Architektur auch keine glatten Linien kennt. Oder Zaha Hadid, die Gebäude entwickelt, die wie gefrorene Bewegungen voller Spannung und Widerspruch wirken und eine eigene Harmonie dabei mitbringen. Der ganze Dekonstruktivismus bricht bewusst generell Struktur und Symmetrie auf und lässt daraus neue Schönheit entstehen.
Warum wir Disharmonie brauchen
Wir brauchen Symmetrie. Sie gibt uns Sicherheit, Stabilität, ein Gefühl von Vorhersehbarkeit. Aber wir brauchen gleichzeitig Disharmonie. Sie schenkt uns Tiefe, Berührung, Individualität und damit Eigenständigkeit und Lebendigkeit. Symmetrie bedient unser Bedürfnis nach Ordnung. Disharmonie trifft unser Bedürfnis nach tieferem Sinn und Echtheit. Es sind die Grundbedürfnisse der Menschen zwischen Verbundenheit und Autonomie.
In der Harmonie kommen wir zur Ruhe. In der Disharmonie werden wir kreativ. Wirklich berührende Kunst, wirklich berührende Menschen sind selten glatt und symmetrisch. Sie sind nicht perfekt, sie sind widersprüchlich und darin ganz und gar echt.
Jeder Künstler kann sich die Freiheit nehmen, eine Vision zu entwickeln, die der Gesellschaft widerspricht.
Günter Grass
Pogo? Logo. Lass uns tanzen
Organisationen werden oft als symmetrische, perfekte Maschinen betrachtet, die nur in geordneter Weise funktionieren. Doch das ist ein Irrglaube. Organisationen sind soziale Systeme, die in ständiger Bewegung und Veränderung sind. Genau das macht sie lebendig. Sie sind nicht immer perfekt, nicht immer rational, nicht immer stimmig oder harmonisch und auch nicht immer schön.
Führung in solchen Organisationen bedeutet, Disharmonie als Teil des Ganzen zu akzeptieren und zu schätzen. Organisationen können nicht verstanden werden als symmetrische Maschinen, sondern als komplexe soziale Systeme, die Disharmonie, Komplexität und manchmal auch Chaos in sich tragen und Führung gestaltet in diesem Umfeld. Auch hierdurch wird Führung wie Organisationen lebendig und damit wandelbar und veränderungsfähig.
Betrachten wir lebendige Organisationen wie ein gutes Stück Musik. Sie hat harmonische Seiten und lebt von Dissonanzen, von Reibung, von Spannung. Eine veränderungsfähige Organisation funktioniert nicht einfach wie ein Uhrwerk. Sie ist nicht kompliziert, sondern komplex. Sie braucht also neben harmonischen Momenten und Elementen auch den Bruch mit genau dieser Harmonie.
Die Bedeutung für Führung und Organisationen
In Organisationen wird oft ein Bild von Harmonie gezeichnet. Alle sollen sich „gut verstehen“, „sich immer wertschätzen“, „an einem Strang ziehen“ und letztlich „in der Unternehmenskultur aufgehen“. Solche Umfelder entstehen in der Individualität von Menschen nicht ohne ein gewisses Maß an Kontrolle. Ohne Harmoniewächter wird das nichts und genau so verstehen manche Führungskräfte ihren Job. Echte Wertschätzung, Wandelbarkeit und Lebendigkeit bedeutet aber mehr.
Gitta Peyn hat mit ihrer Idee der Pogofähigkeit ein schönes Bild geschaffen. Organisationen müssen lernen, nicht an starren, symmetrischen Strukturen festzukleben. Sie müssen springen können. Stolpern dürfen. Agieren und reagieren statt kontrollieren.
Pogofähigkeit bedeutet, dass wir Disharmonie nicht nur aushalten, sondern als Impuls für Entwicklung begreifen. Wertschätzungskulturen streben oft nach Symmetrie und nach harmonischer Anpassung. Doch echte Wertschätzung beginnt genau dann, wenn ein Mensch nicht mehr perfekt ins System passt. Hier liegt die Herausforderung für innovative Organisationen. Diese Unterschiedlichkeit provozieren und aushalten. Echte Wertschätzung erkennt den individuellen Wert an, auch wenn (oder gerade weil) er „asymmetrisch“ ist.
In einer wirklich lebendigen Organisation dürfen Menschen Dissonanzen erzeugen. Sie dürfen Ecken und Kanten zeigen. Sie dürfen anders sein. Das bedeutet echte Diversität. Sie dürfen ihre eigene Melodie anstimmen. Führung bedeutet dann, diese Dissonanzen nicht als Störgeräusche zu verstehen, sondern als Teil der gemeinsamen Musik, mal als Dirigent und mal als Teil der Jazzband, mal als Sängerin, dann als Gitarrist und nicht selten auch als taktgebende Schlagzeugerin.
Zusammengefasst
Symmetrie schenkt uns Sicherheit. Disharmonie schenkt uns Tiefe. Veränderungsfähigkeit entsteht, wenn beides miteinander tanzt. Wenn eine Organisation so gestaltet ist, dass sie mehr kann als zu funktionieren, als Bestehendes zu verstärken und Anderes abzulehnen, wenn sie lebt und pulsiert. Feiere nicht nur harmonisches Miteinander, sondern auch den Bruch. Die Reibung. Die Spannung. Schönheit durch Disharmonie berührt, weil sie unsere Vorstellung von Ordnung herausfordert und uns emotional bewegt. Denn durch den Riss fällt das Licht.
There is a crack in everything. That’s how the light gets in.
Leonard Cohen
(Das Bild ist mit Chat GPT generiert.)