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Unknown Identity: Warum wir Silos brauchen

Große Herausforderung in der Zusammenarbeit von Menschen und Teams sind Schnittstellen zwischen den Menschen, Abgrenzungen und Silos. Eine wichtige Aufgabe für typische agile Rollen wie Scrum Master oder Agile Coaches ist es, bei der Überwindung dieser Abgrenzungen zu helfen. Warum fällt das oft schwer?

Ein Grund sind notwendige Prozesse der Identitätsbildung. Identität, was ist das eigentlich? Und wie beeinflusst ein Team (im Folgenden spreche ich auch immer wieder von Gruppe) meine eigene Identität? Im Grunde ist die Beschreibung von Identität einfach. Bei der Betrachtung von Arbeit in und zwischen Teams sollte zwischen persönlicher und sozialer Identität unterschieden werden.

Die persönliche Identität lässt sich leicht beschreiben: Jeder Mensch entwickelt unter normalen Bedingungen – davon gehen wir in diesem Beitrag aus – eine Vorstellung seiner selbst in Abgrenzung zu anderen Personen. Menschen entwickeln damit ein Ich-Bewusstsein und eine persönliche Identität (Ich-Identität). Beschreiben kann man die persönliche Identität als das Wissen über die eigene Person und beinhaltet beispielsweise Vorlieben, Charakterzüge, Intelligenz und vieles mehr. Diese Sicht auf sich selbst entsteht bei jedem vor allem durch den Vergleich mit anderen Personen – also durch einen sozialen Vergleich. So ist es uns möglich, uns selbst einordnen bzw. einschätzen zu können.

Darüber hinaus bilden wir gleichermaßen eine soziale Identität. Alexander Thomas beschreibt diese Identität als „Summe der Attribute, die einem Menschen von seiner sozialen Umwelt zugeordnet werden und mit denen er sich identifiziert (Bedürfnisse, Fähigkeiten, Einstellungen, soziale Bewertungen wie Status, Rolle, u.v.m.).“ Man kann soziale Identität als das Produkt von Wechselwirkungen zwischen Individuen, Individuum und Gruppe und den Gruppenbeziehungen beschreiben. Sie umfasst das Wissen einer Person über ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, ihrem Wert und der emotionalen Bedeutung, die sie der Gruppenmitgliedschaft zuschreibt (Gruppenvergleich).

Zusammenhang mit Gruppen

Die Sozialpsychologen Tajfel und Turner gelten als Begründer der Theorie der sozialen Identität. Sie bemühten sich mit dieser Theorie um ein besseres Verständnis zu den psychologischen Prozessen bei Diskriminierungen zwischen verschiedenen Gruppen.

Für mich interessant ist, dass die soziale Identität nach dieser Theorie keineswegs ein unveränderbares Phänomen im menschlichen Leben ist. Sie entwickelt sich vielmehr aus den sozialen Kontextbedingungen bestehend aus einer Vielfalt unterschiedlicher sozialer Gruppen und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Damit verändert sich die soziale Identität mit der Veränderung der sozialen Realitäten von und in Gruppen. Die (eigene) Gruppe (ingroup) bietet ihren Mitgliedern durch Vergleiche zu und Distanzierungen von andern Gruppen (outgroups) eine gute Möglichkeit zur Entwicklung der eigenen sozialen Identität.

Grundlegende Annahmen

Drei grundlegende Annahmen untermauern die Theorie von Tajfel und Turner:

  1. Personen streben nach einer positiven Selbstsicht und einem hohen Selbstwert.
  2. Je nachdem, wie ein Individuum seine eigene Gruppe bewertet, kann die eigene Wahrnehmung der sozialen Identität sowohl positiv als auch negativ behaftet sein. Eine positive soziale Identität entsteht durch Vergleiche mit relevanten outgroups. Der Vergleich dient der Stärkung der eigenen sozialen Identität, wenn sich die ingroup positiv von den outgroups abhebt.
  3. Die Bewertung der ingroup erfolgt immer im Vergleich zu outgroups: Eine hohe Differenz zwischen in- und outgroup führt zu einem hohen, eine negative Differenz zu einem niedrigen eigenen Status.
    Fällt der Vergleich negativ aus, versuchen Individuen die eigene Gruppe zu verlassen und einer anderen Gruppe beizutreten oder ihre eigene Gruppe aufzuwerten.

Nun stellt sich die Frage, ob es Maßnahmen gibt, die bei einer negativen Differenz, einem niedrigen eigenen Status, ergriffen werden können.

Strategien des Handelns

Obwohl die soziale Identität eine hohe Abhängigkeit vom Umfeld eines Individuums hat, ist diese Theorie sehr flexibel. Was passiert aber, wenn der geführte Vergleich mit einer relevanten outgroup nicht das gewünschte Ergebnis, also eine positive Unterscheidung von der outgroup, bringt?
Tajfel und Turner schlagen drei mögliche Strategien des Handelns vor:

  1. Wechsel zwischen Gruppen: Individuen versuchen ihre Gruppe zu verlassen und in eine statushöhere Gruppe aufzusteigen (soziale Mobilität)
  2. Umbewertung: Positive Aspekte der statusniedrigen Gruppe werden kognitiv stärker betont, wenn ein Wechsel in eine statushöhere Gruppe verweigert wird (soziale Kreativität)
  3. Konfliktorientiertes Verhalten: Es wird die direkte Konfrontation mit der outgroup gesucht, um danach den Status der beiden Gruppen neu zu bewerten. (sozialer Wettbewerb)

Bedeutung für das Arbeitsumfeld

Die Ausbildung der eigenen sozialen Identität ist ein notwendiger Prozess für die Performance eines Teams und wird durch die eigene Gruppe beeinflusst. Dabei bedingt die Ausbildung der sozialen Identität auch die Abgrenzung zu anderen Teams.

Eine weitere Theorie geht noch einen kleinen Schritt weiter und besagt, dass Menschen eher dazu bereit sind anderen zu helfen, wenn diese als Mitglieder der eigenen Gruppe wahrgenommen werden.

Hinzu kommt: An das Konzept der Vergleichbarkeit von Festinger angelehnt steigt das Empfinden von Konkurrenz umso mehr, je ähnlicher die outgroup erscheint.

Ob sich die Gruppenmitglieder tatsächlich dieser Vergleichsprozesse bewusst sind ist schwer zu sagen. Koziol (1966) merkt dazu an, dass sich Personen immer an Kolleg*innen mit vergleichbarem Leistungsstandard orientieren.

Herausforderungen

Das Bilden von hochperformanten Teams ist für ein schnelles, dynamisches und gleichermaßen kollaboratives Arbeitsumfeld von Menschen sowohl notwendig (bilden von ingroups), als auch herausfordernd durch die für die soziale Identität notwendige Abgrenzung zu outgroups.

Was bedeutet der Einfluss der Menschen in der ingroup und die Vergleiche zu den outgroups für die Performance des Teams? Worauf muss man sich einstellen und was kann man be(ob)achten? Vieles ist möglich:

Vergleiche innerhalb der Gruppe

  • Personen passen ihre Meinung der Mehrheit an.
  • Sie versuchen, ihr Leistungsniveau dem der Vergleichsperson anzupassen.
  • Vergleichspersonen wechseln, die Vergelichsdimensionen ändern, den Vergleich vermeiden oder die Vergleichsperson sogar abwerten.
  • In Teams können „Abweichler“ emotional ausgeschlossen werden.
  • Abweichler können ganz aus Teams ausgeschlossen werden. (Bsp. Wechsel innerhalb des Unternehmens in einen anderen Bereich). Das kann passieren, wenn
    • die Diskrepanz zum Gruppenstandard zu hoch ist
    • die neue Person nicht attraktiv für die Gruppe ist
    • sich die Gruppe durch eine abweichende Person in ihrer Identität bedroht fühlt.

Eine pauschale Lösung für den Umgang mit der Bildung und Veränderung von individueller sozialer Identität und der dafür erforderlichen und davon abhängigen Zugehörigkeit und Abgrenzung von und in Teams gibt es nicht. Gleichzeitig ist es wichtig, sich den Prozessen bewusst zu sein.

Fazit

In einem Arbeitsumfeld, in dem das Arbeiten in performanten Teams hochgradig relevant ist, darf das Individuum nicht auf der Strecke bleiben. Das Bilden der sozialen Identität findet sowohl durch Zugehörigkeit, als auch durch Abgrenzung statt. Das bedeutet auch, dass in gewisser Weise das Entstehen von Silos für die Bildung der sozialen Identität ein normaler und notwendiger Prozess ist. Gleichzeitig ist das Überwinden genau dieser Abgrenzung zwischen „Silos“ erfolgskritisch. Eine Einfache Lösung gibt es nicht. Bei der Betrachtung von Teams und der Qualität ihrer Zusammenarbeit spielt die Ausbildung der sozialen Identität für jeden einzelnen Menschen und für Teams eine große Rolle. Das Bedürfnis der Zugehörigkeit und Abgrenzung ist hochgradig individuell, kann nicht pauschalisiert und muss gleichermaßen bei Teamentwicklung betrachtet werden.

Mehr Beiträge zu weiteren Nebenwirkungen von Teams findest du hier.

Ich freue mich auf eure Erfahrungswerte.

(Das Bild ist von 16:9clue – vielen Dank!)

Melanie Schließmann hat berufsbegleitend Wirtschaftspsychologie mit den Schwerpunkten Führungspsychologie und Sozialpsychologie studiert. Sie arbeitet bei der Pentasys AG als Sales Manager und kennt die Bedürfnisse bei der Suche nach IT Experten von vielen Seiten.

3 Comments

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  1. Spannendes Thema, hilfreiches Fazit am Ende des wissenschaftlich geprägten Artikels. Dass jedes “echte” Team eine eigene Identität, sogar eine eigene Kultur hat, ist erlebenswert. Dadurch wird es imho nicht zu einem Silo, weil es eben ein kleines (fragil konstruiertes) Team ist, eingebunden in einen größeren Kontext. Unter “Silos” stelle ich mir größere Units vor, die organisationell festgeschrieben werden. Units, die im “Organigramm” auftauchen bekommen – aber auch die sind nicht zwingend Silos, wenn sie genügend nach außen interagieren und sich immer wieder neu erfinden. Das dürfte die Schwierigkeit sein: ein kleines effektives Team kann so etwas in Führung durch einen ScM durchaus, größere Einheiten neigen jedoch dazu, sich von Value und direktem Feedback abzukoppeln und “change-resistent” zu werden (Folge: regelmäßige Re-Organisationen). Die Tendenz kann man auch in einem kleinen Team erleben, aber hier lässt sich leicht und schnell Veränderung bewirken, insbesondere wenn die Team Leadership nicht auf Status und Macht ausgerichtet ist, sondern auf Agilität. A toast to all Scrum Masters, you do an important job!

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